Jack Reacher 09: Sniper
wahres Ungeheuer sein. Allerdings würde ich erwarten, dass weitere Faktoren wie Verstärker oder Multiplikatoren eine Rolle spielen. Höchstwahrscheinlich eine Beziehung jüngeren Datums, irgendeine Art Abhängigkeit, eine Vernarrtheit, ein Wunsch zu gefallen, zu beeindrucken, geschätzt und geliebt zu werden.«
»Eine Frau?«
»Nein, man mordet nicht, um einer Frau zu gefallen. Das hat meist die gegenteilige Wirkung. Hier dürfte es sich um einen Mann handeln. Verführerisch, aber nicht auf sexuellem Gebiet.«
»Ein Alphamännchen und ein Betamännchen.«
»Genau«, sagte Niebuhr wieder. »Wobei der letzte Widerstand durch die Bedrohung der Schwester gebrochen wurde. Mr. Barr hat möglicherweise nie genau gewusst, ob die Drohung nur ein Scherz oder bitterer Ernst war. Aber er hat es vorgezogen, nicht die Probe aufs Exempel zu machen. Menschliche Motive können sehr komplex sein. Die meisten Leute wissen nicht, weshalb sie dieses oder jenes tun.«
»Allerdings!«
»Wissen Sie , weshalb Sie dieses oder jenes tun?«
»Manchmal«, sagte Reacher. »Ein andermal habe ich nicht die geringste Ahnung. Vielleicht könnten Sie’s mir sagen.«
»Mein Honorar ist normalerweise sehr hoch. Deshalb kann ich’s mir leisten, in einem Fall wie diesem kostenlos zu arbeiten.«
»Vielleicht könnte ich Ihnen fünf Dollar pro Woche zahlen – wie Miete.«
Niebuhr lächelte unsicher.
»Äh, nein«, sagte er. »Das glaube ich nicht.«
Danach herrschte im Wartebereich wieder Stille, die zehn lange Minuten anhielt. Danuta streckte die Beine weit von sich und blätterte in Unterlagen in seinem Aktenkoffer, den er mit aufgeklapptem Deckel auf den Knien balancierte. Mason hielt die Augen geschlossen, als machte sie ein Nickerchen. Niebuhr starrte ins Leere. Diese drei waren es offenbar gewöhnt, warten zu müssen. Das war Reacher natürlich auch. Er hatte dreizehn Jahre bei der Militärpolizei verbracht, und beeilen und warten war das MP-Motto. Nicht beistehen, beschützen, verteidigen . Er konzentrierte sich auf den fernen elektronischen Herzschlag und vertrieb sich so die Zeit.
Grigor Lisky wendete, parkte erneut ein und beobachtete den Krankenhauseingang im Rückspiegel. Wettete mit sich selbst, dass mindestens sechzig Minuten lang nichts passieren würde. Mindestens sechzig, aber nicht mehr als neunzig. Dann legte er sich eine Dringlichkeitsliste für den Fall zurecht, dass sie nicht alle gemeinsam herauskamen. Wen sollte er ignorieren, wenn beschatten? Letzten Endes beschloss er, bei dem zu bleiben, der allein handelte. Das würde vermutlich der Soldat sein. Die Anwälte und die Ärzte würden in die Kanzlei zurückfahren, vermutete er. Sie waren berechenbar. Der Soldat war es nicht.
Helen Rodin tauchte nach genau einer Viertelstunde wieder aus James Barrs Zimmer auf. Sie kam geradewegs in den Wartebereich zurück. Alle sahen ihr erwartungsvoll entgegen. Sie nickte Mary Mason zu.
»Sie sind dran«, sagte sie. Dr. Mason stand auf und ging den Korridor entlang. Sie nahm nichts mit. Keinen Aktenkoffer, keinen Notizblock, kein Schreibzeug. Reacher sah ihr nach, bis sie die Zimmertür hinter sich schloss. Dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück.
»Ich finde ihn sympathisch«, sagte Helen, ohne jemanden direkt anzusprechen.
»Wie geht’s ihm?«, fragte Niebuhr.
»Er ist schwach«, erwiderte Helen. »Zermanscht. Als wäre er unter einen Lastwagen gekommen.«
»Redet er vernünftig?«
»Zusammenhängend. Aber er kann sich an nichts erinnern. Und ich glaube nicht, dass er simuliert.«
»Wie weit reicht seine Erinnerungslücke?«
»Schwer zu beurteilen. Er kann sich daran erinnern, im Radio die Übertragung eines Baseballspiels gehört zu haben. Das kann letzte Woche oder letzten Monat gewesen sein.«
»Oder letztes Jahr«, sagte Reacher.
»Ist er damit einverstanden, dass Sie ihn vertreten?«, fragte Danuta.
»Mündlich«, sagte Helen. »Er kann nichts unterschreiben. Er ist mit Handschellen ans Bett gefesselt.«
»Haben Sie ihm den Tatvorwurf und die Beweislage erläutert?«
»Das musste ich tun«, antwortete Helen. »Barr wollte wissen, weshalb er meiner Meinung nach einen Anwalt braucht.«
»Und?«
»Er nimmt an, dass er schuldig ist.«
Darauf trat einen Augenblick lang Schweigen ein. Dann klappte Alan Danuta den Aktenkoffer zu, nahm ihn von seinen Knien und stellte ihn neben sich auf den Boden. Setzte sich rasch auf – alles in einer einzigen fließenden Bewegung.
»Willkommen in der Grauzone«, sagte
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