Jack Ryan 02 - Die Stunde der Patrioten
Ein Polizeibeamter nahm ihm den Computer ab, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Dein großer Auftritt, flüsterte Ryan vor sich hin.
William Richards, Queen's Counsel, der Staatsanwalt, war etwa in Ryans Alter und ungefähr so groß wie er. Er begann mit den üblichen Fragen: Name, Wohnort, Beruf, wann trafen Sie in Großbritannien ein, der Zweck Ihres Besuches? Mr. Richards liebte dramatische Effekte und schoß selbst diese belanglosen Fragen auf eine Weise ab, die die Spannung auf den Zuschauerbänken steigen ließ. Ryan spürte es, auch ohne den Blick zur Galerie zu heben.
«Doktor Ryan, könnten Sie mit Ihren eigenen Worten schildern, was als nächstes geschah?»
Jack tat es zehn Minuten lang, ohne unterbrochen zu werden, die ganze Zeit halb zur Jury - acht Frauen und vier Männer - gewandt. Er vermied es, sie direkt anzusehen. Es schien ein sonderbarer Ort für Lampenfieber, doch eben das überkam ihn. Er hielt den Blick auf die Eichenvertäfelung über den Köpfen der Geschworenen gerichtet, während er den Ablauf des Geschehens beschrieb. Es war fast so, als durchlebte er es noch einmal, und er merkte, wie sein Herz schneller schlug, als er fertig war.
«Und könnten Sie den Mann identifizieren, den Sie zuerst angegriffen haben, Doktor Ryan?» fragte Richards schließlich.
«Ja, Sir.» Ryan zeigte hin. «Der Angeklagte dort drüben, Sir.»
Zum erstenmal konnte Ryan ihn richtig betrachten. Er hieß Sean Miller - kein sehr irischer Name, fand Jack. Er war sechsundzwanzig, klein und schlank, trug Anzug und Krawatte. Er lächelte, als Ryan auf ihn zeigte, zu jemandem auf der Besuchergalerie hinauf, wahrscheinlich einem Verwandten. Dann wanderte sein Blick woanders hin, und Ryan fuhr fort, ihn zu mustern. Er hatte sich seit Wochen gefragt, was für ein Mensch ein solches Verbrechen planen und ausführen konnte. Was fehlte ihm, oder was für eine schreckliche Sache - die den meisten zivilisierten Leuten zum Glück mangelte - lebte in ihm? Das magere Gesicht mit den Aknenarben war ganz alltäglich. Miller hätte ein Nachwuchsmanager bei Merrill, Lynch oder irgendeiner anderen großen Firma sein können. Jacks Vater hatte sein Leben lang mit Kriminellen zu tun gehabt, aber ihre Existenz war ihm, Jack, ein Rätsel. Warum seid ihr anders? Was macht euch zu dem, was ihr seid? hätte er gern gefragt, obgleich er wußte, daß die Frage selbst dann offen bleiben würde, wenn eine Antwort käme. Dann sah er in Millers Augen. Er suchte etwas, irgend etwas, einen Funken Leben oder Menschlichkeit, der ihm sagen würde, daß dies wirklich ein anderes menschliches Wesen war. Es waren wohl nur zwei Sekunden, doch ihm kam es wie einige Minuten vor. Er blickte in die hellgrauen Augen und sah ...
Nichts. Da begann er ein wenig zu begreifen.
«Vermerken Sie bitte im Protokoll, daß der Zeuge den Angeklagten Sean Miller identifiziert hat», sagte der Lordrichter, Mr. Wheeler, zu dem Gerichtsschreiber.
«Danke, My Lord», schloß Richards, der Staatsanwalt.
Ryan benutzte die Gelegenheit, um sich zu schneuzen. Er hatte sich letztes Wochenende einen Schnupfen geholt.
«Ist alles in Ordnung, Doktor Ryan?» erkundigte sich der Richter. Ryan wurde bewußt, daß er sich auf die hölzerne Brüstung des Zeugenstands stützte.
«Entschuldigung, Euer Eh ... My Lord. Dieser Gipsverband ist ein bißchen lästig.»
«Gerichtsdiener, einen Schemel für den Zeugen», befahl der Richter.
Das Verteidigerteam saß neben den Vertretern der Anklage, vielleicht fünf Meter weiter in derselben Reihe von Holzbänken mit grünen Lederpolstern. Einen Moment später kam der Gerichtsdiener mit einem einfachen Schemel, und Ryan setzte sich darauf. Was er wirklich brauchte, war ein Haken, an den er seinen linken Arm hängen konnte, aber er gewöhnte sich langsam an das zusätzliche Gewicht. Was ihn verrückt machte, war das fortwährende Jucken, aber dagegen konnte niemand etwas tun.
Der Verteidiger stand auf und warf sich in die Brust. Er hieß Charles Atkinson, bekannt unter dem Spitznamen «der Rote Charlie», den er seiner Vorliebe für radikale Anliegen und radikale Verbrechen verdankte. Er galt als Peinlichkeit für die Labour Party, die er bis vor kurzem im Parlament vertreten hatte. Der Rote Charlie hatte etwa fünfzehn Kilo Übergewicht, und die Perücke saß schief über seinem roten, für die massige Gestalt merkwürdig klein geratenen Gesicht. Die Verteidigung von Terroristen muß sich gelohnt haben, dachte Ryan. Owens sollte mal in
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