Jacob beschließt zu lieben - Roman
sich drücken und willkommen heißen würden, dass sie ungläubig und ehrfürchtig den Heimkehrer aus Sibirien bestaunen würden, so wurde ich schnell enttäuscht.
Die wenigen Leute auf den Straßen drehten sich nicht um, sie erkannten mich nicht und ich sie ebenso wenig. Es waren rumänische Siedler, die nun in den Häusern der Deportierten wohnten. Das war ihrer Kleidung und ihren Gesichtern deutlich anzusehen. Kein Deutscher hätte Sonnenblumenkerne zwischen den Zähnen geknackt und dabei so ruhig, fast entrückt, auf die Kuh gestarrt, die an den Zaun gebunden war und friedlich graste. Ich näherte mich an einen Alten, der auf einer Bank saß. Er hatte einen Schafsmantel über die Schulter geworfen und den Gehstock auf die Oberschenkel gelegt.
«Väterchen, leben hier keine Deutschen mehr?», fragte ich ihn.
«Natürlich leben sie noch hier. Ihre Jungen haben die Russen weggebracht, aber alle anderen sind hier.»
«Wo sind sie denn? Ich sehe keine.»
«Woher soll ich das wissen? In diesem Teil des Dorfes leben fast nur noch Rumänen. Die Schwaben leben drüben,jenseits der Lothringergasse. Vielleicht sind sie jetzt bei der Kooperative, die meisten arbeiten dort.»
«Wie meinen Sie das?»
«Was meinst du damit, Junge, wie ich das meine? Wir sind alle bei der Kooperative. Das Land wurde zusammengelegt, jetzt gehört alles dem Staat. Die Schwaben haben sich lange gewehrt, aber irgendwann mussten auch sie einsehen, dass sie nicht mehr die Herren im Land sind.»
«Und die Obertins? Gibt es sie noch?», wollte ich wissen.
«Auch die gibt es noch. Obwohl jetzt der Zigeunerjunge mit seiner Frau im Haus wohnt und sie draußen im Gesindehaus. Nur der alte Obertin ist vor einem Jahr von uns gegangen. Er war ein guter Mann, anders als sein Schwiegersohn. Wir, die Rumänen, haben für sein Seelenheil gebetet, auch wenn er katholisch war.»
Die Nachricht von Großvaters Tod traf mich wie ein Blitzschlag. Ich wankte und musste mich am Zaun festhalten. Dass er tot sein könnte, erschütterte mich wie vielleicht nur noch die Nachricht von Katicas Erschießung. Und wie damals, als Pfarrer Schulz es uns mitgeteilt hatte, lief ich los in Richtung Hof, der nicht mehr den Eltern und somit auch nicht mehr mir gehören sollte.
Falls man dem Greis überhaupt trauen konnte, denn das Alter und der Schnaps hatten ihm womöglich zugesetzt. Vielleicht sprach er über andere Leute, vielleicht war alles ganz anders. Großvater würde mich umarmen, Mutter auch, ein einziges Mal würde genügen. Dann würde ich ihr den Pullover zurückgeben. Nein, auf Rumänen war kein Verlass. Sie schauten viel zu tief ins Glas, um sich richtig zu erinnern.
Auf diesen wenigen hundert Metern, die ich atemlos zurücklegte, lebte Großvater noch. Ich vergaß die Angst, dass Vater mich vielleicht davonjagen würde. Dass er mit dem Gewehr in der Hand ans Tor kommen könnte. Ich warf mich gegen das Tor wie gegen den schlimmsten Feind, ich trommelte mit den Fäusten darauf herum und versuchte, zwischen den Zaunlatten hindurchspähend, jemanden ausfindig zu machen.
Ich rief nach ihnen, doch im Hof blieb es still, als ob ein Sturm oder ein Teufel das Leben weggefegt hätte. Eine Stille, die ich früher geliebt hatte, wenn sie in den warmen, trägen Nachmittagsstunden herrschte. Nur das Rascheln der Blätter eines Kastanienbaums und das Gebell der Nachbarshunde unterbrachen sie. Aber sie bellten lasch und ohne Überzeugung, als ob sie wüssten, dass ihnen die Arbeit ausgegangen war. Dass sie nichts mehr zu beschützen hatten, denn die Erde, die früher sich selbst und erst dann dem Menschen gehört hatte, gehörte jetzt dem Staat. Großvater hatte einmal gesagt: «Wenn die Erde nicht will, brauchen wir auch nichts von ihr zu wollen.»
Ich setzte mich unter den Kastanienbaum und wartete auf die Rückkehr der Meinen. Inzwischen beschäftigte mich ein anderer Gedanke. Was sollte ich tun, wenn der Grund, der mich nach Hause gebracht hatte – mir meine Erde zu nehmen und mich dafür auch Vater zu stellen – hinfällig geworden war?
Als sich das Tor schließlich öffnete, war es, als hätte Sarelo die ganze Zeit dahinter gewartet. Er musste sich an den Zaun herangeschlichen und mich eine ganze Weile beobachtet haben. Er kam mit einer Axt in der Hand auf die Gasse und hielt den Griff so entschlossen fest, dass ichnicht daran zweifelte, dass er sie auch benützen würde. Auch er hatte sich verändert, war ein stämmiger Mann mit einem misstrauischen Blick
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