Jade-Augen
sie voll Vertrauens, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Es gab afghanische Bedienstete im Kantonnement wie auch andere Zivilisten und mehrere Regimenter afghanischer, den Briten loyaler Truppen, also würde sie nicht auffallen.
Harley hatte keine Anweisungen erhalten, die Tür zu verschließen, und es war vollkommen klar, daß die Umstände sich geändert hatten, seit der Leutnant diese widerspenstige Gefangene mit nach Hause gebracht hatte – daher machte er auch keine Anstalten, sie am Verlassen des Hauses zu hindern.
»Ich gehe nur bis zum Tor des Kantonnements«, erklärte Annabel. »Ich möchte mir selbst ein Bild von den Kämpfen machen. Vielleicht kann ich jemanden oder etwas Nützliches erkennen, ich weiß es noch nicht. Sag dem Leutnant, daß ich bald zurück sein werde, wenn er fragt, wo ich bin.«
»In Ordnung, Miss.« Harley schloß die Tür hinter ihr, darüber nachdenkend, daß des Leutnants Liebesabenteuer mit dieser Dame eine neue Richtung genommen hatte. Überhaupt nicht sein Stil, entschied Harley, und wenn er sich nicht sehr irrte, einer, der ihn bis zum Hals in nachfolgenden Schwierigkeiten versinken lassen würde. Kopfschüttelnd über diese düsteren Aussichten ging er in die Küche, um das Frühstück zuzubereiten.
Annabel eilte in die Richtung, woher die Schüsse kamen. Sie erkannte, daß sie die einzige Zivilistin weit und breit war, und ein Offizier, der eine Abteilung auf das gleiche Ziel zuführte, brüllte ihr auf Paschtu zu, von der Straße zu verschwinden. Aber sie duckte sich einfach in einen Garten, wartete, bis er außer Sichtweite war, und verfolgte dann ihren Weg weiter.
Man hatte die Tore verschlossen; hinter ihnen auf den Erdwällen, die einzige Verteidigungsanlage für das Kantonnement, waren Truppen zusammengezogen, die das Feuer der unterhalb sich befindenden Afghanen erwiderten. Steine flogen ebenso wie Kugeln, Beleidigungen und Drohungen. Die kämpfenden Soldaten auf den Wällen nahmen keine Notiz von Annabel, als sie sich zwischen zwei Posten hindurchschlängelte und ihren Kopf über den Rand der Barriere schob.
Unter ihr schrie eine Horde Ghazi und schwenkte ihre Krummsäbel. Es war ein unorganisierter Haufen, wie sie geahnt hatte, aber nichtsdestoweniger bedrohlich. Ihre Jezails, die langen afghanischen Musketen, krachten mit vernichtender Genauigkeit, und die gebrüllten Beleidigungen und Flüche klangen so bedrohlich, daß die Soldaten rings um Annabel in ihrer Not Gebete und Verwünschungen murmelten. Es war Annabel jedoch klar, daß kein ernsthafter Versuch unternommen würde, an dieser Stelle das Kantonnement zu stürmen.
Sie sah noch einen Augenblick länger zu, doch es geschah nichts, was ihre Meinung über die Art der Auseinandersetzung hätte ändern können, also schob sie sich zwischen den Posten zurück, erreichte wieder ebenen Boden und klopfte Zweige und Dreck von ihrem Mantel.
»Was, zum Teufel, hast du hier zu suchen?« bellte sie ein Unteroffizier an, der mit einer Gruppe Pioniere eine beschädigte Stelle am Wall reparierte. Er starrte die verschleierte Frau an, die plötzlich in ihrer Mitte aufgetaucht war.
»Wollte nur mal sehen, was vor sich geht«, antwortete sie auf englisch, ohne nachzudenken. »Ich meine, es wäre vernünftig, Ihrem Anführer zu sagen, daß er das Feuer einstellen lassen soll. Die Ghazi werden das Interesse verlieren, wenn sie nicht die Genugtuung eines Gegenfeuers bekommen –«
»Ich bitte um Entschuldigung?« Eine Stimme mit abgehacktem Akzent ließ sich hinter ihr vernehmen, sie drehte sich um und fand sich einem perfekten Oberst mit gewachstem Schnurrbart gegenüber, dessen rotbraune Gesichtsfarbe auf seinen langjährigen Dienst unter indischer Sonne schließen ließ.
»Oh, ich habe nur zu erklären versucht, daß die Ghazi bisher nur spielen«, sagte sie ernsthaft. »Beängstigend spielen, natürlich, aber dennoch, wenn Sie sie nicht beachten, werden sie sich wahrscheinlich zurückziehen. Man kann ihre Stimmung gut daran erkennen, was sie brüllen. Vor allem sind es, was ich bisher hören konnte, Sticheleien, und sie werden bald ihrem Unmut Luft gemacht haben. Machen Sie sich keine Sorgen, bis wirkliche Drohungen –«
»Weib, ich weiß nicht, wer oder was du zu sein glaubst.« Der Oberst hatte sich schließlich von seiner Überraschung erholt und unterbrach die munteren Erklärungen. »Aber ich kann dir versichern, daß ich deinen Rat nicht brauche.«
Annabel warf ihre Arme in Verzweiflung gen Himmel.
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