Jade-Augen
irgendeine Art Nachthemd benötigen würde, und er holte ihr eines der seinen, die er ohnehin selten trug.
Er würde ihr von irgendwoher mehr Kleidungsstücke beschaffen müssen. Und wie lange konnte er sie bei sich verstecken? Wie konnte er, wenn ihre Anwesenheit erst einmal bekannt war, dafür sorgen, daß sie sich den Ruf jungfräulicher Unschuld bewahrte, den sie sich bewahren mußte, wenn sie einen Platz in der Gesellschaft einnehmen wollte, zu der sie rechtmäßig gehörte? Und warum, zum Teufel, hatte er sich über diese scheinbar so schwer zu bändigenden Probleme nicht Gedanken gemacht, bevor er so übereilt gehandelt hatte? Er hatte die Dinge nicht durchdacht, einfach weil er von einer leidenschaftlichen Begierde jenseits aller Beschreibung verzehrt wurde, einer Begierde, die er ohne Gedanken an die Folgen befriedigen mußte. Nun hatte er zwar die Folgen, aber nicht die Befriedigung. Das war eine angemessene Strafe, erkannte er niedergeschlagen.
»Hier, das wirst du vielleicht brauchen.« Er warf ihr ein Nachthemd auf einen Stuhl im Wohnzimmer, wo Harley gerade das Sofa bezog.
»Vielen Dank«, sagte sie verbindlich, »du bist sehr aufmerksam.« Erneut bot sie ihm dieses milde Lächeln und seine Handflächen juckten. Keine andere Frau hatte jemals diese Wirkung auf ihn gehabt, hatte in ihm diese erschreckend rohen und stürmischen Impulse geweckt. Aber keine andere Frau hatte ihm, der sich sein Vergnügen dort nahm, wo er es bekommen konnte, bisher wirklich etwas bedeutet; der ehrenwerte Christopher Ralston, der sich einwandfrei benahm, doch ohne allzu großen Gefühlsaufwand; der jeden verlangten Preis bezahlte, ob in Münze oder auf andere Art; und dann unbekümmert seiner Wege ging. Selbst dieser lächerliche Händel um Lucy war eher aus einem Zorn der Trunkenheit auf seine sogenannten Freunde entstanden.
»Gute Nacht.« Er drehte sich auf den Fersen um und verließ den Raum, die Schlafzimmertür geräuschvoll hinter sich zuziehend.
»Gute Nacht, Miss.« Harley glättete ein letztes Mal die Decke auf dem Sofa, bevor er, ihrem Blick ausweichend, aus dem Raum floh.
»Gute Nacht«, murmelte Annabel in Richtung geschlossener Tür. Sie zog sich aus und Kits geräumiges Nachthemd über den Kopf. Dann ging sie ans Fenster, schob die Vorhänge beiseite und blickte in die Nacht. Das Fenster war wie alle anderen durch Gitterstäbe gesichert, und sie konnte wohl davon ausgehen, daß auch die Türen verschlossen waren.
Was geschah in der Stadt? Was plante Akbar Khan jetzt? Schaudernd sträubten sich ihre Haare im Nacken. Sie hatte immer gewußt, wie angreifbar die Briten waren, wie dürftig in ihrer Kontrolle über das Land; aber sie hatte es aus der luftigen Höhe des Adlers gesehen, der über seiner Beute kreist und mit amüsierter Verachtung die Sprünge der bemitleidenswerten Kreaturen beobachtet, die so blind sind für die über ihnen schwebende Gefahr. Jetzt saß auch sie in tiefem Gras gefangen, und wenn der Adler niederstieß, dann fiele sie ihm genauso zur Beute wie all die anderen, die die Bedrohung nicht wahrnahmen. Es gab Frauen und Kinder da draußen in diesem zusammengewürfelten Vorort … Familien, die ihr Leben führten, als ob sie sich in einem Dorf in England befänden, statt in den Klauen einer unwegsamen Landschaft und von Angesicht zu Angesicht mit einem barbarischen Gegner.
Sie wandte sich wieder dem Sofa zu, löschte die Kerzen auf dem Tisch und legte sich im flackernden Licht des Kaminfeuers auf das behelfsmäßige Lager. Es war schmal und hart. Kalt und einsam. Ihr Körper sehnte sich nach dem Trost, der Wärme und den unaussprechlichen Freuden, die ihr dieser andere Körper geben konnte, der sich dem ihren so bedingungslos wie ihr eigener bot und jetzt ebenfalls kalt und einsam auf der anderen Seite der Wand lag.
Welche Tugend lag in dieser Selbstverleugnung, wenn das Fundament ihrer ganzen Existenz einstürzte … oder schon eingestürzt war? Sie stand auf.
Kit starrte in die Dunkelheit, seine Muskeln hart vor Verlangen, und bittere Selbstvorwürfe wirbelten durch sein ruheloses Gehirn, als sich die Tür öffnete. Eine weißgekleidete Gestalt glitt in den Raum.
»Salaam, Ralston, Huzoor. « Sie schlüpfte aus dem Kleidungsstück und stand nackt vor ihm.
»Ich grüße dich, Ayesha«, murmelte er und schlug einladend die Decke zurück. Er sah ab von der Mühe, sich ihren Besuch zu erklären, sondern nahm ihn an, wie er Ayesha auch in jener ersten Nacht angenommen hatte … ein
Weitere Kostenlose Bücher