Jaeger
hatte. Dann legte sie den Gang ein und fuhr vom Parkplatz.
Die ganze Zeit über behielt sie das Handy im Auge, nur für den Fall, dass es noch einmal klingelte. Sie wünschte sich, es würde klingeln.
Es blieb stumm.
16 Wieder ein unpersönlicher Krankenhausflur. Einer von vielen. Eigentlich hätte Mickey Philips sich mittlerweile daran gewöhnt haben müssen, doch das war nicht der Fall. In gewisser Hinsicht war er sogar sehr dankbar dafür.
Im Laufe der Jahre hatte er, zunächst in Uniform und später in Zivil, auf unzähligen Plastikstühlen gesessen, becherweise widerliche braune Heißgetränke in sich hineingeschüttet und sich die Langeweile durch das wiederholte Lesen von Plakaten mit gutgemeinten Verhaltensmaßregeln vertrieben. Maßregeln, die er jedes Mal nach Verlassen des Krankenhauses vor lauter Erleichterung sofort vergessen hatte. Jetzt, da er wieder einmal auf einem Plastikstuhl saß und wieder einmal einen Styroporbecher mit undefinierbarer brauner Flüssigkeit in den Händen hielt, kamen ihm all die ähnlichen Situationen von früher in den Sinn.
Er hatte darauf gewartet, dass Unfallopfer aus der Narkose erwachten, nur um festzustellen, welchen Teil ihres Körpers oder ihres Verstandes sie verloren hatten. Hatte ihnen erklären müssen, dass sie von Glück reden konnten, überhaupt am Leben zu sein, und den Ausdruck in ihren Augen gesehen, der ihm verriet, dass sie ganz anderer Meinung waren.
Er hatte darauf gewartet, dass Frauen, deren Ehemänner ihr trautes Heim in einen Kriegsschauplatz verwandelt und ihre Frauen als Sandsäcke benutzt hatten, aus dem OP kamen. Hatte sich gefragt, ob der jüngste Liebesbeweis ihrer Männer die Frauen stark gemacht und ihnen endlich den Mut gegeben hatte, Anzeige zu erstatten. Einen Schlussstrich zu ziehen. Den Krieg zu beenden und in Frieden neu anzufangen. Oder ob ihr Wille danach endgültig gebrochen war und sie ihrem zukünftigen Mörder noch eine weitere Chance gaben, weil er sie doch aufrichtig liebte.
Er hatte gewartet, während schwerverletzte Kinder operiert wurden, und dabei die Eltern beobachtet, die vor den Trümmern ihrer gesamten Existenz standen, weil alles, woran sie bislang geglaubt hatten, als Lüge entlarvt worden war. Die Garantie auf ihr Leben war hinfällig, und es gab niemanden, den sie dafür zur Rechenschaft hätten ziehen können.
Jedes Mal hatte Mickey dagesessen und gehofft, dass all das Leid nicht auf ihn abfärben würde. Doch diesmal war es anders. Diesmal war er selbst der trauernde Freund, der besorgte Angehörige, dessen Kopf in die Höhe fuhr, wann immer eine Krankenschwester oder ein Arzt vorbeiging, und der aufgeregt fragte, was es Neues gebe, obwohl er genau wusste, dass er erst dann eine Antwort bekommen würde, wenn es eine gab. Dass er sich gedulden musste wie alle anderen.
Dabei ging es um seinen Boss. Kaum zu glauben, dass er sich ausgerechnet um seinen Boss solche Sorgen machte. Andererseits: Wenn man ein bisschen darüber nachdachte, lag es eigentlich auf der Hand.
Phil Brennan war für Mickey mehr als nur ein Vorgesetzter. Für die anderen Kollegen war Mickey immer bloß der stiernackige Versager gewesen, aber Phil hatte etwas Besonderes in ihm entdeckt. Er hatte ihm eine Chance gegeben. Und Mickey hatte ihn – und sich selbst – nicht enttäuscht. Zumindest hatte er sein Bestes getan. Phil hatte ihn immer ermutigt und ihm vieles beigebracht. Hatte Seiten in ihm zum Vorschein gebracht, von denen Mickey selbst nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Dank Phil hatte er sein Potential als Ermittler erst voll erkannt und ausgeschöpft. Als Mitglied von Phils Team in der Abteilung für Kapitalverbrechen fühlte er sich zum ersten Mal in seiner Karriere – wenn nicht gar in seinem Leben – wirklich geschätzt. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl dazuzugehören. Aus all diesen Gründen war Phil für Mickey nicht nur ein Boss. Er war ein Freund und Mentor, dem er näherstand als seiner eigenen Familie.
Die Doppeltüren am Ende des Flurs öffneten sich, und hereinmarschiert kam ein stämmiger, kompakter Mann mit roten Haaren und rotem Gesicht. Er war Anfang vierzig und trug – scheinbar unter Zwang, denn er fühlte sich sichtlich unwohl – einen für Beerdigungen wie Hochzeiten gleichermaßen geeigneten Anzug. Er sah aus wie ein ehemaliger Rugbyspieler, allerdings einer, der noch immer mit Schnelligkeit und Schlagkraft zu überraschen wusste.
DCI Gary Franks. Phils – und damit auch Mickeys – neuer
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