Jaeger
Vorgesetzter.
Bei Mickeys Stuhl angekommen, blieb er stehen.
»Also, wie ist die Lage?« Sein walisischer Dialekt war ebenso markant wie sein rotes Haar. »Wie geht es unserem Mann?«
Mickey stand auf und warf seinen Becher in den Mülleimer, dankbar für die Gelegenheit, nicht weitertrinken zu müssen. »Unverändert. Noch im OP .«
»Aussichten?«
Mickey zuckte die Achseln. »Ganz gut, haben die Ärzte gesagt. Wenn sie … Na ja, Sie wissen schon.« Seine Miene verdüsterte sich. »Jedenfalls besser als bei seinem Vater.«
Franks nickte. »Was für eine Tragödie. Der Vater tot, die Mutter schwer verletzt … Gibt es Neuigkeiten über seine kleine Tochter?«
»Nichts.« Mickey hatte Mühe zu sprechen. »Die Spurensicherung ist noch vor Ort. Sie glauben, falls sie sich in der Nähe des Explosionsherds aufgehalten hat, wäre es möglich, dass …« Er stockte.
»Aber sie wissen es noch nicht mit Sicherheit.«
»Uniformierte gehen gerade von Tür zu Tür. Die Suche nach ihr hat oberste Priorität. Wenn jemand sie gesehen hat, wird man es bald wissen.«
»Und Marina?«
Mickey hatte bereits den Mund geöffnet und wollte berichten, was geschehen war, als DC Anni Hepburn um die Ecke geeilt kam. Sie war außer Atem, und auf ihrer dunklen Haut glänzte ein dünner Schweißfilm. Trotz der bedrückenden Situation konnte Mickey sich nicht verkneifen, ihr einen bewundernden Blick zuzuwerfen. Oder auch mehrere. Sie ertappte ihn dabei, und ihre Mundwinkel zuckten ganz kurz nach oben, bevor sie wieder ernst wurde.
Mickey und Anni umschlichen einander schon seit langem. Dass sie sich zueinander hingezogen fühlten, stand außer Frage, doch keiner von beiden wollte den entscheidenden Schritt machen. Sie hatten zu viel Angst, dass die Sache schiefgehen und dann eine gute Freundschaft – ganz abgesehen von einer erstklassigen Arbeitsbeziehung – in die Brüche gehen könnte. Aber die gegenseitige Anziehung war nicht zu leugnen. Die Luft zwischen ihnen knisterte wie elektrisch aufgeladen.
»Du kommst gerade recht«, sagte Mickey.
»Entschuldige, ich habe mich wirklich beeilt«, japste Anni, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Franks richtete das Wort an sie. »Marina?«
Anni schaute zu Mickey, als sei sie unsicher, ob sie darauf antworten solle. Mickey erwiderte ihren Blick. Ihr blieb wohl keine Wahl.
»Sie ist weg«, erklärte sie.
»Was soll das heißen?«, fragte Franks. »Weg wohin?«
»Keine Ahnung«, sagte Anni vorsichtig.
Mit ihren DCI s hatte die Abteilung für Kapitalverbrechen bislang nicht viel Glück gehabt. Aber Franks, geradlinig und direkt bis zur Unhöflichkeit, schien aus anderem Holz geschnitzt zu sein als seine Vorgänger. Er war auf den Posten berufen worden, um für Stabilität zu sorgen und dem Team eine solide Basis zu bieten. Er war noch nicht lange in Colchester, doch alle schätzten und respektierten ihn. Und dieser Respekt beruhte auf Gegenseitigkeit.
Franks maß sie mit einem Blick, der die erste Zuschauerreihe bei einer Kinovorführung des Horrorfilms Pontypool in Angst und Schrecken versetzt hätte.
»Sie hat meinen Wagen genommen.«
Franks zog die Brauen zusammen.
»Was genau ist vorgefallen?«
»Sie hat mir gesagt, sie müsse zur Toilette, und dann ist sie verschwunden.«
»Und Sie haben sie einfach so gehen lassen?«
»Was hätte ich denn tun sollen?«
Franks musterte sie scharf. Mickey bemerkte, wie Anni sich unter den Blicken ihres Vorgesetzten wand.
»In was für einer Verfassung war sie?«, wollte Franks als Nächstes wissen.
»Was glauben Sie denn?«
Franks machte sich nicht die Mühe, darauf eine Antwort zu geben.
»Aber sie gehört zum Team«, setzte Anni hinzu. »Sie ist eine von uns. Vielleicht kommt sie ja zurück.«
»Halten Sie das für wahrscheinlich?«, fragte Franks.
»Ich fahre los und suche sie«, verkündete Mickey. »Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um zu fragen, ob sie vielleicht irgendwas hiergelassen hat, was ich mitnehmen könnte. Hat sie aber nicht.«
»Und sie hat sich seitdem bei keinem von Ihnen gemeldet?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Da war noch was«, meinte Mickey.
Anni und Franks sahen ihn erwartungsvoll an.
»Es gab einen Augenzeugen in Aldeburgh – der Mann, der Marina davon abgehalten hat, ins brennende Haus zu laufen. DS James von der Polizei in Suffolk meinte, er hätte ausgesagt, Marina hätte etwas gerufen, als sie versucht hat, ins Cottage zu gelangen, und zwar: ›Was habe ich getan?‹«
Schweigen.
Weitere Kostenlose Bücher