Jaeger
war, dass diese Möglichkeit gar nicht wirklich existierte. Wer auch immer hinter all dem steckte, er würde sie nicht einfach so davonkommen lassen. Doch sobald sich die Idee erst einmal in ihr festgesetzt hatte, war der rationale Teil ihres Verstandes nicht mehr dagegen angekommen. Die Idee war gewachsen und gewachsen, so lange, bis Marina, den Anweisungen des Navigationssystems folgend, von der A 120 abgefahren und auf den Parkplatz des anonymen Hotels eingebogen war. Erst dort war ihr klargeworden, dass es kein Wiedersehen mit ihrer Tochter geben würde. Nicht jetzt.
Und später auch nicht.
Der Gedanke traf sie wie ein Faustschlag. Wie scharfe Messerklingen, die bis auf die Knochen in ihr Fleisch schnitten. Nein. So durfte sie nicht denken. Solche Gedanken durfte sie nicht zulassen. Denn sonst …
Nein. Lass es.
Und dann war da noch Phil, der ganz allein im Krankenhaus lag. Ob sie ihn schon operiert hatten? Sie sehnte sich danach, ihm nahe zu sein. Ihn zu halten, seine Stimme zu hören. Noch etwas, wozu sie vielleicht nie wieder Gelegenheit bekommen würde.
Sie spielte mit dem Gedanken, im Krankenhaus anzurufen, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Ihre Finger lagen schon auf den Tasten des Handys, doch dann hielt sie inne. Womöglich könnte der Anruf zurückverfolgt werden. Wenn das so war, würde sie ihre Tochter in Gefahr bringen. Sie konnte nicht ausschließen, dass sie nach wie vor beobachtet wurde. Also gab sie diese Idee schweren Herzens auf.
Sie prüfte das Navigationsgerät, in der Hoffnung – schon wieder dieses Wort –, dass sie sich bei der Eingabe der Koordinaten vertippt, irgendwo einen falschen Abzweig genommen oder einen anderen Fehler gemacht hatte. Nichts dergleichen. Sie war genau da, wo sie sein sollte.
Das Hotel war klug gewählt. An der Kreuzung der A 120 zwischen Essex und Hertfordshire nahe dem Abzweig nach Braintree gelegen, stand es ganz allein auf einem Stück Brachland. Ein Fanal der Farblosigkeit inmitten gähnender Einöde.
Aber es war von der Straße aus leicht im Auge zu behalten. Leicht auszuspionieren.
Sie blickte aus dem Wagenfenster und suchte auf dem Parkplatz nach jemandem, den sie zu ihrem Erzfeind erklären konnte. Nach demjenigen, der die Schuld daran trug, dass sie jetzt hier war. Doch der Parkplatz war nahezu leer. Das Hotel wurde überwiegend von Geschäftsreisenden besucht. Touristen würden sich niemals hierher verirren, schon gar nicht an einem Karfreitag-Abend.
Über ihr gingen flackernd die Natriumlampen an und erzeugten eine trübe Dämmerstimmung. Die Autos waren dunkle, glänzende Flecken in der hereinbrechenden Dunkelheit. Wie Käfer, die sich zur gemeinsamen Nachtruhe zusammengefunden hatten.
Sie seufzte. Dachte an ihren Mann. Ihre Tochter. Ihr war, als hätte jemand ihr Inneres mit Säure herausgebrannt.
Love Will Tear Us Apart.
Rasch griff sie nach dem Handy. »Ja?«
»Haben Sie gut hergefunden? Keine Probleme mit dem Verkehr?«
Innerhalb kürzester Zeit hatte sie die Stimme zu hassen gelernt. Sie verhöhnte sie. Lachte sie aus. Spielte mit ihr. Ihre Hand begann zu zittern, als sie das Telefon fester umklammerte. »Wo ist sie? Wo ist meine Tochter?«
»In Sicherheit. Zumindest für den Moment. Solange Sie machen, was ich …« Ein kurzes Atemholen. Eine Pause. »… was wir sagen.«
Erneut packte Marina die Wut, ohnmächtig und weißglühend. »Was? Was soll ich denn machen? Jetzt sagen Sie es mir doch endlich, dann mache ich es!«
»Schlafen Sie sich erst mal richtig aus. Sie haben morgen einen großen Tag vor sich.«
»Was?«
Ein Stöhnen, als sei ihr Gesprächspartner die ständigen Erklärungen leid. »Ruhen Sie sich aus. Schlafen Sie. Sie müssen morgen topfit sein.«
»Wie soll ich denn schlafen? Nach allem, was passiert ist, nach dem, was Sie … was Sie mit meiner Tochter …«
Urplötzlich verließen sie ihre Kräfte. Sie war müde. So müde, dass es sie eine ungeheure Anstrengung kostete, auch nur das Handy zu halten.
»Sind Sie fertig? Gut. Gehen Sie ins Hotel und nehmen Sie sich ein Zimmer. Es dürfte genug frei sein, schließlich ist Ostern. Die Leute sind jetzt zu Hause bei ihren Liebsten und fragen sich, warum die Läden so früh zumachen und nur Mist im Fernsehen läuft, bloß weil Jesus das Pech hatte, Bekanntschaft mit zwei Holzlatten und ein paar Nägeln zu schließen. Warten Sie auf den nächsten Anruf.«
Sie sagte nichts.
»Sind Sie noch dran?«
»Ja. Bin ich.«
»Na, also. Das ist die richtige
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