Jaeger
visualisierte er den roten Punkt, so wie er es gelernt hatte. Er richtete sein inneres Auge darauf. All seine Konzentration. Die Welt um ihn herum verblasste. Bald hörte er nur noch die Symphonie in seinem Innern.
Er konnte spüren, wie sich seine Herzklappen weit öffneten, das verbrauchte Blut hereinströmte und die Kammern füllte, wie sich die Kammern dann wieder leerten und das gute, saubere Blut überallhin in seinen Körper pumpten, damit es ihn reinigte, ihn sich wieder frisch und heil fühlen ließ.
Als er genügend Herzschläge gezählt hatte und sicher war, dass ausreichend Blut den Kreislauf durch seinen Körper genommen hatte, begann er mit dem Ritual.
Wie viele seit dem letzten Mal?
Zwei.
Leben genommen, Seelen befreit?
Wenn du so willst. Bezeichnungen für die Dinge zu finden ist die Aufgabe anderer.
Namen?
Nein.
Haben sie gelitten?
Nein. Ich habe mich bemüht, es schnell zu tun. Ich bin nicht grausam.
Hatten sie Familie?
Das weiß ich nicht.
Wird man sie vermissen?
Ich denke nicht. Ich hoffe nicht.
Bist du bereit, sie aus deinem Herzen zu tilgen und sie loszulassen?
Ich bin dazu bereit.
Stille.
Sie sind fort. Du bist gereinigt, du bist erneuert, du bist geheilt. Du hast nun wieder inneren Frieden.
Ich danke dir.
Er blieb noch sitzen, das Bewusstsein ganz und gar nach innen gerichtet. Dann schnappte er nach Luft, als er im Geiste urplötzlich das Gesicht seiner Mutter vor sich sah. Das Gesicht seiner schreienden Mutter.
Sein früheres Leben. Als er noch einen Namen gehabt hatte. Bevor er zum Golem geworden war.
Auf einmal war er wieder in dem Zimmer, während es unter Granatenbeschuss erzitterte. Er hörte Schreie, Gebete, die nichts nützen würden. Es war die Zeit seiner Kindheit – eine Zeit, in der die Hoffnungen der Bosnier auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung in Hass aufgegangen waren. Als die serbische Armee von Miloševi ć ć sie angegriffen, Nachbarn zu erbitterten Feinden gemacht und dem Hass eine Legitimation verschafft hatte. Als in Srebrenica geboren worden zu sein das schlimmste Schicksal war, das einem Menschen widerfahren konnte.
Ethnische Säuberungen. Ein nüchterner, fast harmloser Ausdruck, hinter dem sich eine grauenhafte Wahrheit verbarg: Vergewaltigung. Folter. Mord. All das hatten die Serben und die ehemalige jugoslawische Volksarmee seiner Familie angetan. Diejenigen, die nicht getötet worden waren, wurden in Lager verschleppt. Diejenigen, die diese Lager überlebten, waren danach für immer gezeichnet.
So wie er.
Seine Mutter, seine Schwestern waren vergewaltigt und verstümmelt worden, bevor man sie getötet hatte. Sein Vater war ermordet worden. Und ihm selbst war es so vorgekommen, als wäre er zusammen mit ihnen gestorben. Er hatte sich danach nicht länger als Mensch gefühlt; in ihm loderten ein gerechter Zorn und der Durst nach Rache.
Der Krieg ging 1995 offiziell zu Ende, doch für ihn würde er niemals zu Ende gehen. Er erschuf sich neu. Verwandelte sich in eine Tötungsmaschine. Setzte alles daran, die Serben aufzuspüren, die Schuld am Tod seiner Familie trugen. Er nahm Tabletten und Vitaminpräparate ein. Trainierte. Achtete auf einen gesunden Lebenswandel. Und je größer und härter sein Körper wurde, desto mehr veränderte er auch seine Farbe. Er wurde grau.
Zuerst fand er es schrecklich und konnte es nicht ertragen, in den Spiegel zu schauen. Mit der Zeit jedoch gewöhnte er sich daran. Er fühlte sich innerlich tot, und Grau war die richtige Farbe für einen Toten. Der Spitzname kam wenig später. Golem. Der legendäre, aus Ton geformte Beschützer des Prager Ghettos. Das gefiel ihm. Er behielt den Namen bei.
Irgendwann war er bereit zu töten. Und er tat es auch. Es gelang ihm nicht, alle Soldaten aufzuspüren, die für den Tod seiner Familie verantwortlich waren, also nahm er sich stattdessen jeden vor, der im Krieg auf der Seite der Serben gestanden hatte. Es war ein blutiges, grausames Werk. Und es brachte ihm nicht den erhofften Frieden.
Allerdings wurden gewisse Leute auf ihn aufmerksam, die seine Dienste brauchen konnten. Drogenbarone. Schlepper. Bandenchefs. Anfangs wollte er nichts mit ihnen zu tun haben, doch irgendwann gab er nach. Er war eine Killermaschine ohne neue Opfer. Warum sollte er sich nicht fürs Töten bezahlen lassen?
Doch Vergnügen bereitete es ihm nicht. Es quälte ihn, nicht zu wissen, ob seine Opfer den Tod verdient hatten. Er suchte Hilfe und fand sie schließlich in der Meditation. Im Laufe
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