Jaeger
sie sich Helen Hibbert vorstellte. Es war ein Spiel, das sie oft mit Deepak spielte – eine Methode, ihn dazu zu ermuntern, sich nicht auf Profile und Stereotypen zu verlassen, sondern um die Ecke zu denken und sich eine eigenständige Meinung zu bilden. Manchmal versuchte sie sogar, seinen Wettbewerbsgeist anzustacheln, indem sie ihm vorschlug, eine Wette darauf abzuschließen, wessen Beschreibung der Wahrheit am nächsten kam. Der Verlierer müsse dann das gemeinsame Mittagessen bezahlen. Deepak biss so gut wie nie an, was Jessie allerdings nicht davon abhielt, es immer wieder zu versuchen.
»Ich glaube, sie ist ihm vom Typ her ziemlich ähnlich«, hatte Jessie gemutmaßt. »Mittleren Alters, einige Kilos zu viel auf den Rippen, kurze Haare. Männerhaarschnitt. Grobes, unförmiges Gesicht wie bei einer Bäuerin – oder einem Bauer. Von Kopf bis Fuß in Barbour-Klamotten.«
Deepak, der am Steuer saß, hatte sie damit überrascht, dass er ausnahmsweise einmal seine eigene Sicht der Dinge kundtat. »Total daneben«, widersprach er.
Jessie grinste. Sie wollte unbedingt mehr hören. »Wie kommen Sie darauf?«
»Sie denken in Klischees«, gab er zurück. »Lassen sich von Vorurteilen leiten.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ma’am.«
»Ach so, tue ich das? Und wie sieht Ihre absolut individuelle, vorurteilsfreie Sicht der Dinge aus?«
»Erstens ist sie definitiv jünger als er.«
»Glauben Sie?«
»Und blond.«
»Wieso blond?«
»Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, Ma’am. Ich denke eben, dass sie blond ist. Nicht notwendigerweise von Natur aus, versteht sich.«
»Versteht sich.«
»Sie ist mit Sicherheit extrovertierter und auffälliger als er. Ich glaube, er hatte es schwer, mit ihr mitzuhalten.«
»Ist das Ihr Ernst? Und worauf stützen Sie diese vorurteilsfreien Annahmen?«
»Ermittlungsarbeit, Ma’am. Hibberts Haus hat schon deutlich bessere Zeiten erlebt. Genau wie seine Ehe. All dieser Nippeskram in dem Haus sah so aus, als wäre er einmal sehr teuer gewesen. Der Geschmack war eher der einer Frau, nicht der eines Mannes.«
»Mein Geschmack war’s mit Sicherheit nicht.«
»Meiner auch nicht, aber irgendjemandem hat das Zeug doch offenbar gefallen, sonst wäre es wohl kaum gekauft worden. Ich schätze, sie hat toupierte blonde Haare, kleidet sich auffällig, gibt viel Geld für Make-up, Kosmetikbehandlungen und dergleichen aus.«
»Weil das die Art von Frau ist, die solchen Kram kaufen würde?«
Deepak nickte und erwiderte lächelnd: »Wetten wir ums Mittagessen?«
Ich motiviere einen Mitarbeiter , dachte sie. Das ist mein Job. »Warum nicht?«
Wie sich herausstellte, traf Deepaks Einschätzung zu hundert Prozent zu. Helen Hibberts Wohnung lag in Ipswich am Common Quay, in der jüngst gentrifizierten Gegend am Fluss Orwell. Helen ließ sie herein, sobald sie sich als Polizisten identifiziert, ihre Dienstausweise vor das Objektiv der Videokamera am Eingang gehalten und ihr mitgeteilt hatten, dass es um ihren Ehemann gehe.
Im Fahrstuhl grinste Jessie Deepak an. »Bis jetzt sieht’s ja ganz gut aus für Sie …«
In der Wohnung reichte ein Blick, und Jessie wurde klar, dass sie Deepak ein Mittagessen schuldete. Helen Hibbert hatte sich für ihre Besucher mit Bedacht in Szene gesetzt. Sie saß in einer Ecke vor dem Fenster, die gebräunten Beine übereinandergeschlagen, hinter und unter ihr das Fluss-Panorama, als stünde sie buchstäblich über allem. Sie war perfekt zurechtgemacht, sogar ihre Nägel sahen frisch manikürt aus. Jessica vermutete, dass Helen Hibberts Nägel immer frisch manikürt aussahen. Kleid und Schuhe waren Designerware, stellte Jessie fest, und genau wie Deepak gemutmaßt hatte, war ihr Haar blond. Ihr Gesicht war genauso sorgfältig instand gehalten wie der Rest ihres Körpers. Helen Hibbert war jünger als ihr Mann, allerdings nur um wenige Jahre. Trotz aller Schönheitsbehandlungen ließ sich nicht verbergen, dass ihre Haut zunehmend an Spannkraft verlor, die Krähenfüße tiefer wurden und sie vermutlich jeden Morgen ein wenig mehr Zeit benötigte, um so auszusehen wie jetzt. Der Zahn der Zeit nagte auch an ihr.
Sie bot ihnen etwas zu trinken an und deutete dabei auf ihren eigenen Wodka Tonic.
»Ich weiß, wahrscheinlich denken Sie, dass es noch ein bisschen früh ist, aber was soll’s? Irgendwo auf der Welt ist es jetzt Zeit für Cocktails.«
Jessie überbrachte ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes, und Helen Hibbert gab die trauernde Witwe
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