Jäger der Macht: Roman (German Edition)
Waxillium.
» Er wurde als sehr tapfer beschrieben.«
» Er war tapfer. Viele Menschen verwechseln Schreckhaftigkeit mit Feigheit. Ja, Paclo ist unter einem Schuss zusammengezuckt. Und dann hat er nachgesehen, woher der Schuss kam. Ich habe einmal bemerkt, wie er sechs bewaffnete Männer niedergestarrt hat und dabei nicht einmal in Schweiß ausgebrochen ist.«
Er wandte sich ihr zu. » Sie sind unerfahren. Das war ich auch einmal. Das ist jeder Mensch. Dabei kommt es nicht darauf an, wie lange man schon lebt. Und es geht auch nicht darum, wie leicht man bei Lärm zusammenzuckt oder wie schnell man Gefühle zeigt. Eher geht es darum, sich das zunutze zu machen, was einem das Leben gezeigt hat.«
Sie errötete tief. » Ich glaube auch, dass Sie Spaß am Dozieren haben.«
» Das gehört zum Abzeichen des Gesetzeshüters.«
» Sie … tragen aber keines mehr.«
» Man kann es zwar abnehmen, Herrin Marasi. Aber man kann niemals aufhören, es zu tragen.«
Er sah sie an. Ihre Augen waren tief und spiegelnd, wie das Wasser einer unerwarteten Quelle im Rauland. Er stählte sich. Er war schlecht für sie. Sehr schlecht. Dasselbe hatte er schon bei Lessie gedacht, und er hatte Recht gehabt.
» Da ist noch etwas, das ich über Sie denke«, sagte sie leise. » Können Sie es sich vorstellen?«
Nur zu gut.
Widerstrebend riss er den Blick von ihr los und sah das Blatt an. » Ja. Sie denken, ich sollte Ranette dazu überreden, Ihnen ein Gewehr zu geben. Dem stimme ich zu. Auch wenn ich es für klug hielte, wenn Sie irgendwann mit einem Revolver üben, sollten Sie bei dieser Sache eine Waffe haben, mit der Sie gut umgehen können. Vielleicht finden wir ein Gewehr für Sie, in das diese Aluminiumkugeln passen, die Wayne sich geschnappt hat.«
» Oh. Natürlich.«
Waxillium gab vor, ihre Verlegenheit nicht zu bemerken.
» Ich glaube«, sagte Marasi, » ich sollte mich jetzt um Wayne und Ranette kümmern.«
» Gute Idee. Hoffentlich hat sie noch nicht herausgefunden, dass er eine ihrer Waffen im Tausch weggegeben hat.«
Hastig ging Marasi zur Tür.
» Herrin Marasi?«, rief Waxillium ihr nach.
Sie blieb vor der Tür stehen und drehte sich voller Hoffnung um.
» Sie haben mich gut durchschaut«, sagte er und nickte respektvoll. » Das gelingt nicht vielen. Ich bin nicht gerade dafür bekannt, meine Gefühle allzu deutlich zu zeigen.«
» Verhörtechniken für Fortgeschrittene«, sagte sie. » Und ich habe … Ihr psychologisches Profil gelesen.«
» Es gibt ein psychologisches Profil über mich?«
» Ich fürchte ja. Doktor Murnbru hat es nach seinem Besuch in Wettering geschrieben.«
» Diese kleine Ratte von Murnbru ist ein Psychologe?«, fragte Waxillium und war ehrlich erstaunt. » Ich war mir sicher, dass er bloß ein Falschspieler ist, der zufällig in die Stadt kam und nach einem schnellen Gewinn gesucht hat.«
» Äh, ja, das steht auch in dem Profil. Sie haben die Angewohnheit, jeden, der zu viel Rot trägt, als chronischen Spieler zu betrachten.«
» Ach ja?«
Sie nickte.
» Verdammt«, sagte er. Ich muss diesen Bericht unbedingt lesen.
Sie ging und zog die Tür hinter sich zu. Er drehte sich wieder zu seinem Plan um. Er hob die Hand und setzte den Ohrring ins Ohrläppchen. Er sollte ihn tragen, wenn er betete oder etwas sehr Wichtiges tat.
Er vermutete, dass er heute Nacht beides tun würde.
Kapitel 16
W ayne humpelte durch den Bahnhof und stützte sich dabei auf seinen braunen Stock. Er ging mit langsamen, absichtlich unsicheren Schritten. Eine große Menge schob sich über den Bahnsteig und glotzte den Zug an, der soeben eingefahren war. Einige Personen ruckten zur Seite und hätten ihn beinahe umgestoßen.
Alle waren so groß! Wayne war vom Alter gebeugt und hatte keine Hoffnung, sehen zu können, was der Grund all dieser Aufregung war. » Keiner denkt an eine arme alte Frau«, brummte er mit rauer, nasaler und höherer Stimme als gewöhnlich, in die sich ein netter margothischer Akzent gestohlen hatte. Den margothischen Distrikt gab es nicht mehr, zumindest nicht mehr so wie früher; er war vom Industriegebiet seines Oktanten geschluckt worden, und die Einwohner waren weggezogen. Ein sterbender Akzent für eine sterbende Frau. » Überhaupt kein Respekt mehr. Das ist doch ein Hohn, das sage ich euch. Offen und ehrlich, das ist es.«
Ein paar Jugendliche in der Menge sahen ihn an, betrachteten seinen uralten Mantel, der ihm bis zu den Fußknöcheln reichte, sowie sein gerunzeltes Gesicht
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