Jäger der Macht: Roman (German Edition)
Miles in dem unterirdischen Raum aus Dunkelheit und Nebel gestanden und mit seinem Revolver auf ihr Versteck gezielt hatte. Während der letzten beiden Tage war ihr dreimal eine Waffe an den Kopf gehalten worden. Aber nur einmal hatte sie wirklich geglaubt, sterben zu müssen – als sie den Blick in Miles’ Augen gesehen hatte. Herzlosigkeit, Gefühllosigkeit und Überheblichkeit hatten darin gelegen.
Sie zitterte. Zwischen dem Angriff der Verteidiger auf der Hochzeitsfeier und Miles’ Gefangennahme waren weniger als eineinhalb Tage vergangen, doch sie hatte das Gefühl, als sei sie in dieser Zeit um zwei Jahrzehnte gealtert. Es war wie eine Art zeitlicher Allomantie, wie eine Zeitblase, die nur sie allein einschloss. Die Welt hatte sich verändert. Sie war fast getötet worden, hatte zum ersten Mal selbst getötet, außerdem hatte sie sich verliebt und war zurückgewiesen worden. Und jetzt hatte sie dabei geholfen, einen früheren Helden des Raulandes zum Tode zu verurteilen.
Miles sah die Polizisten, die ihn an den Pfahl banden, mit Verachtung an. Dieselbe Haltung hatte er während des gesamten Prozesses gezeigt – des ersten, an dem sie als Hilfsstaatsanwältin beteiligt gewesen war, auch wenn Daius die Leitung des Falles übernommen hatte. Der Prozess war trotz seiner Bedeutung und des großen Aufsehens, das er verursacht hatte, rasch durchgeführt worden. Miles hatte seine Verbrechen nicht geleugnet.
Offenbar hielt er sich für unsterblich. Selbst als er nun dort unten stand, ohne seine Metallgeister, und ein Dutzend Gewehre auf ihn gerichtet waren, schien er nicht zu glauben, dass er sterben könnte. Der menschliche Geist war besonders geschickt darin, sich selbst zu betrügen und so die Verzweiflung über das Unausweichliche im Zaum zu halten. Sie kannte diesen Blick. Jeder Mann hatte ihn, wenn er jung war. Und jeder Mann erkannte ihn irgendwann als Lüge.
Die Gewehre wurden an die Schultern angelegt. Vielleicht würde Miles die Lüge jetzt erkennen. Als die Schüsse knallten, stellte Marasi fest, dass sie zufrieden war. Und das verwirrte sie sehr.
Waxillium bestieg den Zug in Trockhafen. Das Bein tat ihm noch immer weh, und er ging am Stock. Außerdem war sein Brustkorb bandagiert, um die gebrochenen Rippen zu stützen. Eine einzige Woche hatte keineswegs ausgereicht, um alle Wunden zu heilen, die er davongetragen hatte. Vermutlich hätte er das Bett noch nicht verlassen sollen.
Er humpelte den Gang in der luxuriös ausgestatteten ersten Klasse entlang und zählte die Abteile ab, während sich der Zug mühsam in Bewegung setzte. Er betrat das dritte Abteil, ließ die Tür offen und setzte sich in einen der gut gepolsterten Sessel am Fenster. Er war am Boden befestigt und befand sich vor einem kleinen Tisch mit einem hohen einzelnen Fuß, der so gebogen und schlank war wie der Hals einer Frau.
Kurze Zeit später hörte er vom Gang her Schritte. Sie hielten vor der Tür an.
Waxillium betrachtete die Landschaft, die hinter dem Fenster vorbeizog. » Hallo, Onkel«, sagte er, drehte sich um und sah den Mann in der Tür an.
Großherr Edwarn Ladrian betrat das Abteil. Er stützte sich auf einen Spazierstock aus Walzahn und trug sehr teure Kleidung. » Wie hast du mich gefunden?«, fragte er und setzte sich in den anderen Sessel.
» Ein paar Verschwinder sind polizeilich befragt worden«, sagte Waxillium. » Sie haben den Mann beschrieben, den Miles immer nur Meister Schick genannt hatte. Ich glaube nicht, dass jemand anders dich anhand dieser Beschreibungen erkannt hat. Soweit ich weiß, hast du in dem Jahrzehnt vor deinem Tod wie ein Einsiedler gelebt und keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt – natürlich mit Ausnahme deiner Briefe über die politische Lage, die du an die Zeitungen geschickt hast.«
Das beantwortete die Frage nicht ganz. Waxillium hatte diesen Zug und diesen Waggon anhand der Zahlen in Miles’ Zigarrenkiste ermittelt, die Wayne entdeckt hatte. Es waren Zugverbindungen gewesen. Alle anderen hatten die Ansicht gehegt, es seien die Züge, die die Verschwinder als Nächstes ausrauben wollten, aber Waxillium hatte ein anderes Muster darin erkannt. Miles hatte die Bewegungen von Meister Schick erforscht.
» Interessant«, sagte Großherr Edwarn, holte ein Taschentuch hervor und säuberte sich damit gerade die Finger, als zwei Diener eintraten. Der eine trug ein Tablett mit Speisen, die er vor Edwarn auf den Tisch stellte, der andere schenkte ihm Wein ein. Er bedeutete den beiden mit
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