Jäger der Nacht
dir!» Sie ließ einen blitzenden Blick durch den Raum kreisen. «Ihr habt euch alle gegen mich verschworen! Versucht, mich loszuwerden!» Zum ersten Mal konzentrierte sie ihren Blick auf Kevin. «Sogar der kleine Kevie. Deine eigene Mutter! Du willst deine... leibliche... Mutter abschieben!»
Kevin fühlte den Stich und zuckte zurück.
Jakes Stimme klang müde. «Du bist krank, Millie. Sie können dir helfen im Krankenhaus.»
«Ich geh’ nie nich’ ins Krankenhaus. Ich bin im Krankenhaus gewesen. Ich bin aus dem Krankenhaus rausgekommen. Ich geh’ nicht... zurück!» Für einen Augenblick herrschte Ruhe im Zimmer. Nur Millies angestrengtes Atmen war zu hören.
Kevin umklammerte den Umschlag in seiner Hand und fragte sich ängstlich, wann der Krankenwagen kommen würde.
Millies Atmen ging in ein Zittern über, und ihr Körper, der auf der Couch saß, schien zu schrumpfen. Ihre knochigen Arme waren über ihrer Brust gekreuzt. Sie begann sich vor und zurück zu wiegen. «Ich hab’ nichts getan. Nur versucht, gesund zu werden, damit ich meinen Babys ein anständiges Zuhause geben konnte. Monat auf Monat, in diesem gottverdammten Krankenhaus! Dann sagte der Doktor, daß ich gehen könnte. Ja, ich war gesund. Ich konnte raus. Oh, was hab’ ich mir damals alles überlegt! Was für wunderbare Sachen sollten geschehen!» Sie sah sich mit großen Augen im Zimmer um, ihre Augen wanderten von Dennis über Jake zu Kevin. «Das hier!» Ihr Lachen krächzte vor Verbitterung.
«Zumindest ist im Krankenhaus immer jemand in der Nähe. Ja, irgendjemand ist immer in der Nähe. Vielleicht ist im nächsten Bett ‘ne verrückte, klapperige Alte, aber sie ist da, versteht ihr, sie ist da. Sie geht nie nich’ weg. Da gibt’s kein Herumstreunen in der Stadt oder Kleben vor dem Fernseher. Nein. Sie ist da, und man kann ‹hallo› zu ihr sagen, und sie antwortet. Was sagt ihr dazu? Sie antwortet.» Ihre Stimme war jetzt ganz schwach, und ihre Augen waren in die Ferne gerichtet.
Kevin dämmerte es, daß ein Teil von ihr zurück ins Krankenhaus wollte, sich in ein Bett kuscheln wollte, in den Tod hinübergleiten wollte. Dieser Teil von ihr würde die Papiere unterzeichnen. Er ging quer durchs Zimmer, setzte sich neben sie auf die Couch und legte den Umschlag auf das Tischchen vor ihnen, zusammen mit seinem Schulfüller.
«Mutti...»
Sie sah ihn mit unsicherem Blick an. «Ja...?»
«Ich möchte mit dir reden.»
Sie nickte. «Ja, rede mit deiner Mutter.»
Er bemerkte, daß Jake und Dennis munter wurden und neugierig, was Kevin so nervös wie nie zuvor machte. Er wünschte, daß sie nicht da wären, aber es schien keinen Weg zu geben, sie aus dem Haus zu bekommen. Er wandte Millie seine volle Aufmerksamkeit zu.
«Mutti... Mutti, hör mir zu...»
Ihr Blick konzentrierte sich auf ihn. «Ich höre zu.»
Vor lauter Angst schwieg Kevin. Er spielte mit dem Umschlag vor sich herum, und Millies Augen wanderten von seinem Gesicht zu seiner Hand. «Was haste da?»
«Papiere.»
«Was für Papiere?»
Kevin fühlte, wie ihm alles entglitt. Bruce. New York. Alles. Er schluckte und riß sich zusammen. «Mutti... ich möchte mit dir reden.»
Ihre Stimme war ungeduldig und ärgerlich. «Nun... dann sag, was du zu sagen hast!»
Jake und Dennis standen beobachtend da. Kevin haßte sie dafür. Dann dachte er an Lenny. Wie er einschmeichelnd reden konnte, mit der Weisheit der Straße. Lenny. Der Junge aus dem Untergrund. Es war auch sein Untergrund. Überleben. Ohne Rücksicht auf Verluste... Überleben. Er spürte, was falsch daran war und doch seine Berechtigung hatte. Er versuchte, wie Lenny zu sprechen. Die verschleiernde Art, in der Lenny sprechen konnte. Sogar zu seiner Mutter, jetzt, konnte er so sprechen.
«Mutti, das Krankenhaus wird dir gut tun. Sie werden sich so um dich kümmern, wie man sich um dich kümmern sollte. Und du wirst wieder gesund. Und du wirst wieder rauskommen und dich wohlfühlen. Und wir werden wieder alle zusammen sein...»
In ihren Augen erschien wieder dieser in die Ferne gerichtete Blick. Kevin redete immer weiter, mit leiser und sanfter Stimme.
«Brauchst dir keine Sorgen um uns zu machen. Jake kann sich um Dennis kümmern, und ich hab’ einen Platz, wo ich bleiben kann.» Alle sahen ihn jetzt an. Er hatte nur einen Gedanken: ‹Rede weiter, Kevin, rede weiter .. .›
«Ich hab’ einen Freund. Er lebt im Gallatin House, und er wird gut auf mich aufpassen, bis du aus dem Krankenhaus
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