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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
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dreißig sollte er in Bruces Wohnung auf der Upper West Side sein.
    Der Schnee überzog sein Gesicht mit Kälte, als er eilig an den Schuhgeschäften, Buchhandlungen und griechischen Restaurants in der 8. Straße vorbeiging. Er überquerte die Sixth Avenue und ging die Christopher Street runter bis zur U‐Bahn in der Seventh Avenue. Westlich der sechsten war ein anderes Land. Er kam sich vor wie ein Bürger, der aus dem Exil zurückgekehrt ist, und ging mit derselben einstudierten Lässigkeit, die er auch an anderen Männern bemerkte, die an ihm vorbeigingen – allein oder als Pärchen, in einer Auswahl von Stammesuniformen, Jeans oder Leder. In seinem Geschäftsanzug kam er sich verkleidet vor, und er zog die Möglichkeit in Betracht, daß man sich womöglich in der Christopher Street ausweisen müsse.
    Er verließ die U‐Bahn an der 86. Straße Ecke Broadway und verschränkte die Arme vor der Brust, um sich gegen den garstigen Wind zu schützen, als er sich westwärts Richtung Hudson River wandte. Er hatte Bruce noch nie in New York besucht und fragte sich, was er unter dieser Riverside‐Drive‐Adresse vorfinden würde. Schmutzige Socken und den Dreck von Jugendlichen, die all diese viktorianischen Möbel versauten? Ohrenbetäubenden Krach vom Schallplattenspieler? Posters von den Becken männlicher Rockstars? Er hatte Geralds Vermutung von Lächerlichkeit widerstanden, aber nun, als er im Schneegestöber um die Ecke bog, war er sich nicht so sicher, ob Gerald nicht doch recht gehabt hatte, und daß Bruce vielleicht von einer fleischfressenden Pflanze namens Jugend verschlungen wurde. Es ist so einfach für Schwule, die kaum den tagtäglichen Kontakt mit dem lärmenden Vorgang des Heranwachsens haben, über solch eine Beziehung ins Schwärmen zu geraten. Aber Bruce hatte nun sechs Monate Realität hinter sich. Hatte er es überlebt? Und wenn, was waren die Überlebensregeln, wie sah die Gleichung einer Beziehung aus, das Gleichgewicht von Abhängigkeiten, die das Überleben möglich machten?
     
    Als Amory vor dem Eingang des großen Wohnblocks stand, fühlte er sich fast wie ein Anthropologe, der ein Flußufer in Neu Guinea betrat, um herauszufinden, wie die Eingeborenen zurechtkamen und welch merkwürdige Bräuche ihre Dschungelkultur hervorgebracht hatte. Aber als ihn der Wind umtoste, kam es ihm eher vor, als würde er Eskimos in der kanadischen Tundra inspizieren.
    Der Pförtner kündigte ihn an, und, als er den Fahrstuhl zum neunten Stock nahm, entfuhr ihm vor lauter Beklemmung ein schwacher Klageton. «Bruce, mein geliebter Ex, in was, zum Teufel, hast du dich da nur reingeritten?» Selbst in dem weiten Spektrum schwuler Beziehungen war dies – er mußte Gerald zustimmen – «grotesk».
    Kurz nachdem er den Klingelknopf von Apartment 96 gedrückt hatte, hörte er Kevins Stimme: «Ni...e...dri...ge Brücke!» Und Bruce öffnete die Tür.
    Nach der Dämmerung des Winterabends fühlte sich Amory plötzlich in Licht gebadet. Die Wände des Wohnzimmers bestanden aus einem großflächigen Weiß, und es gab kein Stück viktorianischer Einrichtung zu sehen. Die Einrichtung war gedämpft modern, und die Polster waren in leuchtenden, kräftigen Farben gehalten. Wenn Bruce nicht vor ihm gestanden hätte, hätte er geglaubt, in die falsche Wohnung gegangen zu sein.
    Aber Bruce war da, und hinter ihm Kevin.
    «Willkommen!» sagte Bruce.
    «Danke.» Amory rieb seine Hände. «Es ist kalt draußen.» Kevin kam vor. «Hier, laß mich deinen Mantel nehmen.»
    Amory breitete seinen schneebedeckten Mantel aus und gab ihn, indem er ihn kurz schüttelte, Kevin. Während Kevin ihn in den Schrank hängte, legte Bruce einen Arm um Amorys Schulter und führte ihn ins Wohnzimmer. «Setz dich. Was kann ich dir zu trinken bringen? Wie üblich Scotch mit Wasser?»
    Amory grinste. «Ich hab’ mich kaum geändert.» Er sah sich im Zimmer um. «Aber das hier...»
    «Gefällt’s dir?»
    «Großartig. Der neue Bruce.»
    Als Bruce in die Küche verschwunden war, starrte Amory aus dem Fenster. Unter sich konnte er im Licht der Straßenlaternen den winterlich weißen Riverside Park erkennen. In der Ferne konnte man durch das Schneegestöber die Wolkenkratzer auf der Jersey‐Seite des Flußufers sehen.
    Amory merkte, daß Kevin neben ihm stand. «Netter Blick, hä?»
    «Fürwahr.»
    «Wenn nachmittags die Sonne kommt, dann... erstrahlt hier einfach alles.»
    «Das kann ich mir vorstellen.» Er warf Kevin einen verstohlenen Blick zu.

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