Jäger der Nacht
es jemanden, den ich für dich anrufen soll?»
Der junge Mann schüttelte seinen Kopf. «Ich lebe allein... mit einer Katze.»
Amory ergriff seine Hand und spürte einen dankbaren Druck.
Sie schieden genauso anonym, wie sie sich kennengelernt hatten. Vor dem rothaarigen Doktor würde es keine Enthüllungen geben.
In der Eingangshalle des Krankenhauses entdeckte Amory eine Telefonzelle und rief Bruce an. Er hatte Bruce seit zehn Tagen nicht angerufen, und das gab ihm irgendwie ein Schuldgefühl; aber nun, als er das Freizeichen hörte, wünschte er sich inständig, daß Bruce zu Hause wäre... und allein, so, wie ihn Amory das letzte Mal zurückgelassen hatte, als sie sich wieder mal fürchterlich gestritten hatten. Amory war damals davongestürmt und hatte sich sinnlos betrunken; Flanigan hatte die Kneipe geheißen, eine uralte irische Kneipe, die trotz der Zehn Gebote und der Allmächtigen Kirche ein schwuler Treffpunkt war. Er hatte damals vom Polizeirevier aus angerufen und sich gefragt, ob Bruce nach all den verletzenden Dingen, die er ihm gesagt hatte, überhaupt noch mit ihm sprechen wollte. Bruce war zu Hause gewesen. Bruce war gekommen und hatte ihn aufgelesen. Und das, was sie danach im Bett gemacht hatten, hatte aller Logik der Psychologen widersprochen.
Bruce... bitte, sei da!
Aber das Telefon klingelte und klingelte, verzweifelt wie ein Schrei in der Nacht. Er könnte nach Hause gehen, ein Aspirin und einen Drink nehmen und ins Bett fallen. Aber der Gedanke an eine Nacht allein machte ihm Angst. Nicht diese Nacht! Nun bedauerte er die Geste, mit der er nach seinem letzten Krach mit Bruce den Wohnungsschlüssel auf den eleganten Eßtisch gelegt und verkündet hatte, daß sie nunmehr nur noch gute Freunde sein würden. Pech. Ein hoher Preis für einen eindrucksvollen Auftritt. Jetzt brauchte er den Schlüssel. Jetzt brauchte er Bruce.
6. KAPITEL
An jenem Abend führte Bruce Andrews seine Tante Charlotte zum Essen aus, und zwar ins ‹Avignon›, einem kleinen französischen Restaurant nahe dem Jefferson Square in der Innenstadt. Das war ein wöchentliches Ereignis, auf das er sich jedes Mal freute. Seit er ein kleiner Junge war, war ihm Tante Charlotte immer als der Freigeist der Familie vorgekommen, und er konnte ihr vertrauen und sich auf sie verlassen wie bei keinem anderen seiner Verwandten.
Sogar jetzt – Mitte Siebzig und untadelig frisiert und gekleidet – strahlte Charlotte immer noch diese gewisse Unbekümmertheit einer Spielerin aus, so daß Bruce an sich damit rechnete, sie könnte jeden Moment ihre Schuhe ausziehen und am nächstbesten Kronleuchter schaukeln.
Bruce nahm an, daß Tante Charlotte wußte, daß er schwul war; und zwar schon, seit er als 15jähriger mit ihr einen Sommer in ihrem Landhaus in Maine verbracht und dort sein erstes schwules Erlebnis mit einem Jungen namens Julian gehabt hatte. Von Zeit zu Zeit schien sie allerdings uninteressiert an Bruces Neigungen zu sein, wenn sie sie nicht sogar vergessen hatte. Dennoch verhielt sie sich den jungen Männern gegenüber, die Bruce ihr vorstellte, absolut herzlich, angefangen vom ersten, Julian, bis zum bislang letzten, Amory. Amory mochte sie besonders, und gelegentlich flirtete sie sogar schamlos mit ihm. Amory erwiderte diese Komplimente mit jenem liebevoll‐grinsenden Seitenblick, der für gewöhnlich den intimen Augenblicken mit Bruce vorbehalten war.
Als sich Bruce und Amory getrennt hatten, hatte Charlotte das mit einem traurig‐seufzenden Augenaufschlag kommentiert und Bruces Hand getätschelt. «Amory war so ein netter junger Mann», hatte sie gesagt, und Bruce hatte ihr zugestimmt. Aber es gab keinen Grund, jedenfalls nicht Tante Charlotte gegenüber, Einzelheiten zu erklären, genauso wie es keinen Grund zu Erklärungen gegeben hatte, unter welchen Bedingungen auch immer sie eineinhalb Jahre lang zusammengelebt hatten. Auch fragte ihn Tante Charlotte niemals, wann er denn heiraten würde – eine Frage, die sonst in schöner Regelmäßigkeit von den anderen Mitgliedern der Familie gestellt wurde und der er stets mit der mehr oder minder witzigen Bemerkung auswich, daß er auf das richtige Mädchen warten würde.
Nun saß er Charlotte am Tisch gegenüber. Er beobachtete, wie sie in ihrem Seezungenfilet herumstocherte – die Gabel zitterte im Einklang mit der tattrigen Hand, ihr Gesicht war trotz des Kerzenscheines blaß. Und Bruce stellte fest, daß es mit Charlottes Gesundheit abwärtsging. Er machte
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