Jäger der Nacht
heiße Kartoffel in Sams Leben sein. Dennis hatte das mit seinem gelangweilten Hohn gesagt, «wirst es noch lernen». Und was er lernen würde, war, sich niemals auf irgendeinen Freier zu verlassen – nur auf das Geld, das man in der Hafenstraße machen konnte.
Miss Gotters Besuch hatte einen merkwürdigen Einfluß auf Millie. Kevin fiel es am nächsten Abend auf. Sie lächelte Kevin an, als er nach der Schule in die Küche kam. Sie summte vor sich hin, während sie das Abendessen auf dem Herd kochte. Und sie ließ die Frikadellen nicht anbrennen.
Für Kevin war es dasselbe wie in der Schule. Millie hatte ihre Prüfung bestanden. Miss Gotter hatte ihr ein Versetzungszeugnis ausgestellt. Nach all diesen Jahren im Krankenhaus baute sich Millie nun ein Heim auf. Zumindest war es das, was Miss Gotter dachte. Und wenn Miss Gotter das glauben konnte, dann konnte Millie das auch.
Zum erstenmal seit Wochen saßen alle zum Abendessen um den Küchentisch versammelt, und Millie war nahezu nüchtern, als sie die Frikadellen – dazu in Scheiben geschnittene Tomaten und Steckrübenbrei – mit ausgesprochener Vorsicht servierte, wobei sie versuchte, ihre Hände so ruhig wie möglich zu halten.
Kevin empfand eine Welle von Zuneigung für diese knochige Frau mit dem müden Gesicht und den dunklen Ringen unter den Augen. Sie schien das letzte Quentchen Anstrengung dafür aufzuwenden, sich recht und schlecht durchs Leben zu schlagen, und der Alkohol betäubte den Schmerz dieser Anstrengung, obwohl er diese Anstrengung noch quälender machte. Immerhin, sofern es Miss Gotter betraf, schlug sie sich tatsächlich durchs Leben.
Kevin konnte sich noch daran erinnern, wie er sie in der grüngestrichenen Trostlosigkeit des Krankenhauses besucht hatte, und nun konnte er sich die Vorstellung ausmalen, die Millie von dem Zuhause gehabt haben mußte, das sie ihren Kindern bereiten wollte, wenn sie erstmal aus dem Krankenhaus käme. Er fragte sich, was sie nun durch den Alkoholnebel sah. War der Küchentisch mit feinem Linnen, Porzellan und Silber gedeckt? War ihr Jake mit seiner Busfahrerpension eine große Stütze? Waren Kevin und Dennis die Bilderbuchkinder, aufmerksam in der Schule und besorgt um ihre Mutter? Als sie das Essen servierte und er den Glanz in ihren Augen sah, mochte Kevin fast glauben, daß es das war, was sie sah, daß die Fantasien aus dem Krankenhaus Wirklichkeit geworden waren. Was konnte er ihr erzählen – daß Jake eine Niete war und ihre zwei Söhne Huren? Er konnte es fast hören, wie Millie die letzten ihrer zerbrechlichen Hoffnungen beweinte.
Aber irgendwie setzten sich Millies Fantasien im Verlauf des Abendessens durch. Sie war die huldvolle Dame des Hauses. Kevin ertappte sich dabei, die Frikadellen mit dem Messer zu schneiden. Jake ließ seine Papierserviette auf seinem Schoß und steckte sie nicht unter sein schwabbeliges Kinn. Und als Dennis nach dem Ketchup fragte, sagte er «Bitte». Als Konversationsthema hielt sich Jake an die Straßenbahnwagen, die er gekannt hatte. Selbst Dennis gab vor zuzuhören.
Nach dem Abendessen ließ sich Jake in seinem großen Sessel vor dem Fernsehapparat nieder, während sich Dennis auf seinem Schoß kuschelte. Millie wusch das Geschirr, und Kevin trocknete es ab. Ihre Hände im Spülwasser, redete Millie immer wieder über Miss Gotter und wie sich alles so wunderbar entwickelt hätte. Und Kevin sagte «Sicher, Mutter», als er die tropfnassen Teller aus ihrer Hand entgegennahm.
Als die letzten Teller abgetrocknet und weggestellt waren, wrang Millie den Wischlappen aus, trocknete ihre Hände ab und seufzte. Sie legte einen Arm um Kevins Schulter. «Schön», sagte sie. «Alles wird ein gutes Ende nehmen.» Kevin fühlte sich den Tränen nahe, aber er weinte nicht. Sie würde ihn nach dem Warum gefragt haben, und er wäre nicht in der Lage gewesen, es ihr zu erzählen. Er schlang seine Arme um ihren ausgezehrten Körper, hielt sie für einen Moment fest und ließ dann los. Sie nahm ihr Glas mit Likör vom Kühlschrank runter. «Komm schon, laß uns fernsehen.»
Zwei Stunden später war sie so betrunken wie immer.
10. KAPITEL
Kevin ging die Treppe nach oben, der Dunkelheit des zweiten Stockwerks entgegen. Das schwindende Licht des Tages wies ihm den Weg zu seinem Bett. Er legte sich der Länge nach aufs Bett und sah durchs Fenster den Wolken zu, die das strahlende Rosarot der untergehenden Sonne einfingen.
Millie war auf dem Weg, sich zu Tode zu trinken. Das
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