Jäger der Nacht
wußte er jetzt. Da gab es nichts, was irgendjemand überhaupt dagegen unternehmen konnte. Es dauerte vielleicht noch ein Jahr, vielleicht auch länger; aber es würde passieren. Er hatte sie an diesem Abend beobachtet, wie sie angestrengt versucht hatte, dem Fernsehprogramm zu folgen, wie sie unablässig das Glas an ihre Lippen führte, und es war ihm so vorgekommen, als wäre sie vor seinen Augen zu einer verwirrten, alten Frau geschrumpft.
Jake und Dennis hatten nur den Fernseher im Auge, ohne Millie zu beachten; die Leute auf der Mattscheibe bewarfen sich mit Sahnetorten, und Dennis feuerte sie an. Auf Millies gespitzten Lippen glänzte ein Speicheltropfen, und wie Kevin sie so beobachtete, hätte er aufschreien, sie bei den Schultern packen und sie schütteln, das Glas aus ihrer Hand nehmen und es aus dem Fenster werfen mögen. Aber zum Teufel, sie würde sich nur ein anderes Glas holen und sich wieder einen kräftigen Schuß eingießen.
Wenn sie sterben würde, was bliebe ihm? Dennis? Jake? Er schnaubte verächtlich, erhob sich von seinem Sessel und ging nach oben.
Nun, als er auf dem Bett lag, konnte er nichts als Leere fühlen, als ob er allein im Haus wäre und niemand zurückkommen würde. Alles, was er besaß, war ein Stück Papier in seiner Hosentasche.
Er drehte seinen Kopf und sah durch den dämmerigen Raum zu Dennis’ Feldbett rüber. Der Fußboden war übersät mit Papierfetzen. Die Telefonnummern von Dennis. Dieser Typ. Jener Typ. Und noch ein Typ. Jeder Zettel das Angebot einer Beziehung, die Dennis achtlos zugunsten des nächsten Typen verwarf. Immer der nächste Typ. «Weil», hatte Dennis erklärt, «der letzte Typ immer ‘n falscher Fuffziger ist. Die geben dir ‘ne falsche Nummer, oder du rufst sie an und irgend ‘ne Frau hebt ab oder so’n Scheiß. Es gibt keinen endgültigen Typen. Immer nur den nächsten. Und der zahlt wahrscheinlich sowieso mehr.»
Kevin hob seine Hüften, zog sein einziges Stück Papier aus der Hosentasche und besah es sich. In dem schwachen Licht las er jede einzelne Zahl, eine nach der anderen, nicht als eine Mitteilung, sondern wie einen Glücksbringer. Es war Sams Rufnummer. Er hatte sie sich vom Telefon auf dem Nachttisch gemerkt und aufgeschrieben, nachdem er zu Hause war. Nicht, daß er sie hätte aufschreiben müssen. Er konnte sie sich auswendig aufsagen – unter der Dusche, auf dem Weg zur Schule, des Nachts beim Schlafengehen, überall.
Doch die Nummer zu haben, war eine Sache. Tatsächlich anzurufen eine andere. Wenn er nicht so einen Aufstand darum gemacht hätte, wenn er nicht gesagt hätte, er müßte gehen und er wüßte nicht, ob er wiederkäme oder so, dann wäre es vielleicht in Ordnung gewesen. Aber so? Würde sich Sam an ihn erinnern? Vielleicht hatte er viel zu tun oder so. Vielleicht war er mit einer Frau zusammen. Kevin dachte darüber nach. Ein attraktiver Typ wie Sam, mit Auto und einer schönen Wohnung, konnte wahrscheinlich jede Frau haben, die er wollte. Also warum sollte ihm etwas an einem Jungen in seinem Alter gelegen sein?
Aber er war in der Hafenstraße gewesen. Vielleicht nur zur Abwechslung. Und dann wieder zurück zu seinen bezaubernden Frauen. So könnte es sein. Da war absolut nichts Tuntiges an Sam. Er war sogar männlicher als Mr. Graham. Es war verwirrend.
Am nächsten Tag in der Schule fühlte Kevin eine steigende Spannung. Zwischen den Stunden starrte er immer wieder auf das Münztelefon, das auf dem Gang in der Nähe des Direktorenzimmers war. Er wollte die Nummer wählen – nur um herauszufinden, ob Sam zu Hause war, nur um seine Stimme zu hören, nur um sich zu vergewissern, daß er da war. Um elf, in der Geschichtsstunde, sah er Mr. Graham unverwandt an, der so gelassen und selbstsicher war, und dachte über seine Ähnlichkeit mit Sam nach. Nun war es einfach, sich Mr. Graham unter der Dusche vorzustellen.
Beim Turnunterricht am Nachmittag betrachtete er sich im Spiegel des Umkleideraums. Es war ein langer, prüfender Blick, und er vergaß dabei alle anderen um sich herum. Er betrachtete sein Haar, sein Gesicht, die Muskeln, die sich allmählich auf seinen Armen abzuzeichnen begannen, die ersten Härchen auf seiner Brust. Er machte den Mund auf und prüfte seine Zähne; dann wanderte sein Blick wieder zu seinen Haaren. Er wünschte, sie wären etwas länger. Dennoch, er sah ganz ordentlich aus. Vielleicht erinnerte sich Sam an ihn. Vielleicht hielt ihn Sam für gutaussehend. Sein Selbstvertrauen wuchs, als er
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