Jäger der Nacht
«Dir gehört das Bergwerk nicht mehr?»
«Mein Ur‐Großvater hat die Mine verkauft. Mein Großvater hat das meiste Geld vertrunken. Und was er hinterließ, hat mein Vater an der Börse verloren.» Bruce schnippte einen Kieselstein ins Wasser. «Klar, ich hab’ immer noch ‘ne Menge Möbel. Und ein Legat von meiner Mutter, so daß ich nicht verhungern werde. Aber das läßt immer noch die Frage offen... wer bin ich? All diese Schiffer, Maultierjungs, Maultiere, haben sie das alles für mich getan? Den Letzten der Linie? All diese Mühsal, und hier bin ich nun, sitze am Kanal, denke über meinen Ur‐Ur‐Großvater nach und weiß, daß er das für ein ganz schön trauriges Ende all der Plackerei halten würde. Ach, zum Teufel. Sie sind jetzt alle tot.»
Der Junge umfaßte Bruces Hand.
Auf der Rückfahrt sah Kevin Bruce unverwandt an, als ob er ihn zum ersten Mal sähe. Das Gesicht war immer noch dasselbe, das er in der Hafenstraße gesehen hatte. Die Hände, der Körper, genauso, wie er sie im Bett kennengelernt hatte. Aber es war das Gesicht eines Mannes, die Hände eines Mannes, der Körper eines Mannes. Alles verschlossen und beherrscht, die geheimnisvolle Macht der Welt der Erwachsenen ausstrahlend. Aber nun hatte er einen Einblick gewonnen, so wie bei Mr. Grover. Er sah Licht und Schatten, wo es ihm vorher nicht aufgefallen war, und es war viel komplizierter als die Eindrücke, die er von Mr. Grover gewonnen hatte.
Er konnte es sich selbst nicht sehr gut erklären, aber Bruces Gesicht schien irgendwie ausgetrocknet zu sein. Nicht verwittert wie bei Mr. Grover, sondern ausgedörrt. Die Haut straffgespannt über den Wangenknochen. Die Lippen schmal wie die auf den alten Porträts in seinem Geschichtsbuch. Die Hände, die nach dem Duschen so sauber waren, sahen aus, als ob sie von Mörtel überzogen wären. Er dachte an einen Körper, der in eine Zeit versetzt war, in der alles ausgedörrt war.
Er wußte, daß seine Vorstellung verrückt war. Er mußte sich nur an den Morgen erinnern, an dem er mit Bruce im Bett gewesen war, um sich das zu vergegenwärtigen. Er wußte, daß Bruce nicht ausgetrocknet wie ein Flußbett war, sondern daß es aus ihm nur so herausströmte; Kevin hatte es auf seinem eigenen Körper gespürt. Aber hatte die Dürre nicht doch begonnen? Würde sie sich heimtückisch durch seine Eingeweide arbeiten? Seine Lippen ausdünnen. Seine Wangen einfallen lassen. Sein Kinn spitz machen und den Glanz aus seinen Augen nehmen.
«Der Letzte der Linie.» Das hatte er gesagt, und er hatte es mit einer verzweifelten Endgültigkeit gesagt. Kevin kannte diese Stimmung. Er hatte so eine Verzweiflung in der Nacht zuvor auf dem Friedhof verspürt. Aber wie konnte sie einen Mann mit einem Auto und Geld und Kleidung und einer Wohnung und Arbeit überkommen? Einen Mann, der sogar aufs College gegangen war!
Galt das alles nichts, nur weil er schwul war, nur weil er niemals Kinder haben würde? Kevin überkam plötzliche Furcht. Er, Kevin, besaß absolut nichts, und außerdem war er noch schwul. Wenn Bruce «der Letzte der Linie» war, wo war dann sein Platz?
Er rückte ganz dicht an Bruce heran, bis sein Bein Bruces Knie berührte, und seine Hand ruhte sanft auf Bruces Schenkel.
Die Filme, die sie sich an diesem Abend ansahen, waren, soweit es Kevin betraf, reichlich merkwürdig. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er am liebsten in Bruces Wohnung geblieben, hätte Pizza gefuttert und ferngesehen. Aber Bruce hatte was anderes im Sinn.
Sie gingen zum Abendessen in ein kleines italienisches Restaurant mit riesiger Karte. Es war dunkel dort, und auf jedem Tisch brannte nur eine einzige flackernde Kerze. Kevin bemerkte, daß sich Bruce, während er sich setzte, suchend im Raum umsah und beruhigt zu sein schien, als er seine Serviette entfaltete. Auch Kevin sah sich im Raum um. An den kleinen Tischen saßen zumeist Pärchen, Männer und Frauen. Aber an einem nahen Tisch saßen zwei Männer, und am anderen Ende des Raumes waren zwei Frauen miteinander in eine Unterhaltung vertieft. Kannte Bruce jemanden von ihnen? Kannte ihn irgendjemand? Er fühlte sich ungemütlich, aber Bruce schien heiterer Stimmung zu sein, und so nahm er an, daß das alles Fremde waren. Aber was wäre, wenn jemand, den Bruce kannte, hereinkäme und ihn beim Essen mit einem Jungen vorfände, der immer noch so wie für einen Abend in der Hafenstraße angezogen war? Kevin machte sich ganz klein in seinem Stuhl und konzentrierte
Weitere Kostenlose Bücher