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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
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will das Steinhaus ansehen.»
    Sie gingen über den Steg und folgten auf der gegenüberliegenden Seite dem schmalen Streifen Land zwischen dem Kanal und dem Fluß. Sie gingen um das Haus mit seinen vernagelten Fenstern herum und kamen auf der Schleusenseite zu einer gußeisernen Tür. Kevin drückte dagegen. Sie gab nicht nach.
    Bruce sagte: «Den Schleusenwärter gibt’s schon seit einigen Jahren nicht mehr. Aber wenn es ein warmer Tag war und es keine Kähne zum Durchschleusen gab, dann pflegte er hier draußen zu sitzen und Banjo zu spielen.» Bruce setzte sich an den Rand der Schleuse und ließ seine Beine knapp oberhalb des Wassers baumeln. «Man sagt, daß er ein recht guter Spieler war. Er hatte genug Zeit zum Üben.»
     
    Kevin setzte sich neben Bruce und sah ihn aufmerksam an. «Wie kommt’s, daß du so viel über den Kanal weißt?»
    Bruce blickte den Kanal rauf und runter, seufzte tief und sagte: «Nun...»
    Kevin wartete.
    Bruce sah zu den Bäumen hinauf. «Laß mich nachdenken... es war mein Ur‐Ur‐Großvater, der sich eine Kohlenmine oben in den Bergen gesichert hatte. Er heuerte jeden Iren an, den er finden konnte, ihm bei der Förderung zu helfen, und dann mußte er sich eine Möglichkeit ausdenken, die Kohle in die Stadt zum Verkauf bringen zu können.»
    «Jemandem aus deiner Familie gehörte ein ganzes Bergwerk?»
    «Das war für die damalige Zeit genau das Richtige.»
    «Wann war das?»
    «Um 1840.»
    «Ganz schön lange her.»
    «Seitdem ist viel Wasser den Fluß runtergekommen.» Bruce seufzte wieder. «Wie auch immer, mein Ur‐Ur‐Großvater kaufte sich eine ganze Reihe von Kohlekähnen. Und seit daher wissen wir alles über die Kanalschiffer. Mein Ur‐Ur‐Großvater hat’s meinem Ur‐Großvater weitergegeben und der meinem Großvater, und mein Großvater pflegte mich an Sonntagnachmittagen hier mit rauszunehmen – damals fuhren keine Kohlekähne mehr – und mir alles darüber zu erzählen. Diese Geschichten... sie klangen so lebendig, daß ich förmlich die Maultiere den Pfad entlangkommen sehen konnte mit den Kähnen im Schlepptau, auf denen sich diese schwarze, glänzende Kohle stapelte.»
    Kevins Stimme klang belegt. «Ich kann sie auch sehen.»
    Bruce warf Kevin einen Seitenblick zu. «Es sagt dir was, nicht wahr?»
    «Was?»
    «Das, was geschehen ist. Die Vergangenheit.»
    Kevin zuckte mit den Achseln. «Davon hat’s bei mir nicht viel gegeben.»
    «Wie meinst du das?»
    «Großvater... Ur‐Großvater... Ur‐Ur‐Großvater... so was hab’ ich nie gehabt. Ich bin bei Pflegeeltern groß geworden.» Er kicherte.
    «Mrs. Crimmins... sie war meine letzte Pflegemutter... sie sagte, daß sie sich dachte, ich sei unter einem Feigenblatt gefunden worden.»
    «Biologisch unmöglich», sagte Bruce. «Und was ist aus deinem Vater geworden?»
    «Weiß nicht. Alles, was ich weiß, ist, daß der Ehename meiner Mutter Stark ist. Und ich heiße Kevin Stark. Also nehme ich an, daß es mal einen Typ namens Stark gegeben haben muß. Aber Millie spricht nie von ihm. Ich hab’ sie ein paarmal gefragt, und sie sagte, daß sie keine Ahnung hat, von wem ich spreche. Sie muß wohl damals blau gewesen sein. Es ist manchmal schwer, aus ihr schlau zu werden. Man sollte meinen, sie müßte sich daran erinnern, daß sie mal von einem Typ gefickt wurde.» Er zuckte wieder mit den Achseln. «Vielleicht auch nicht...»
    Eine Brise jagte kleine Wellen über die Oberfläche des Wassers. Über ihren Köpfen bewegte sich das Geäst, und Sonnenstrahlen sprenkelten die Erde um sie herum.
    «Merkwürdig», sagte Bruce. «Du hast kaum eine Vergangenheit, und ich habe verdammt noch mal zu viel davon.»
    Kevin hatte noch nie einen Menschen so etwas sagen hören.
    «Was meinste damit?» Bruce zögerte.
    Plötzlich war es für Kevin eine verzweifelte Notwendigkeit, daß Bruce weitersprach. «Erklär’s mir.»
    Bruce zauste durch Kevins Haar. «Du hast selbst Sorgen genug.»
    «Nein... erklär’s mir. Und erzähl mir bloß nicht, ich würde es nicht verstehen.» Kevin, erstaunt über seine eigene Forschheit, grinste schelmisch. «Das sagen mir immer alle, daß ich es doch nicht verstehen würde. Aber ich bin ganz schön rumgekommen.»
    «Ich weiß, Kevin.»
    «Also... ?»
    «Es ist nur... ich bin der Letzte der Linie. All diese Kinder. All diese großen Unternehmungen und das Geldscheffeln. All diese Erwartungen. Mit mir... hört es auf. Und ich muß mich selbst fragen: Wer bin ich?»
    Kevin wisperte nahezu.

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