Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
beiläufig.
»Dann wäre alles Zufall. Nadine am Samstag, Eddie am Sonntag. Bisschen viel Zufall.«
Thomas Ilic nickte.
Bis Herdern sprachen sie nicht mehr. Das Wort hing bleiern zwischen ihnen, Suizid, aber in einem anderen Zusammenhang, und sie wussten es beide.
Sie fragte sich, was Thomas Ilic gerettet haben mochte.
Claus Rohmueller hielt in einer kurvenreichen, ruhigen Straße unterhalb des Stadtwalds. Nachdem sie ausgestiegen waren, deutete er auf einen dreistöckigen Neubau mit breiten Balkonen und raumhohen Fenstern.
Der Hund lief vor.
»Schauen wir zuerst, ob ihr Auto da ist«, sagte Louise.
Rohmueller schloss die Eingangstür auf. Über die Kellertreppe gingen sie in die Tiefgarage. Neben einem fast neuen schwarzen Golf blieb Rohmueller stehen.
»Nicht anfassen«, sagte Louise.
Er nickte.
Sie fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock. Sonne flutete durch die Glasfassade des Treppenhauses, der Marmorboden leuchtete grell. Vor der Fensterwand standen in gleichmäßigen Abständen Grünpflanzen. Aus den Wohnungen drang kein Laut, das ganze Haus war in Stille und Adrettheit erstarrt.
Wieder lief der Hund vor. An einer der Wohnungstüren bellte er einmal verhalten.
Claus Rohmueller zog ein Schlüsseletui aus der Tasche.
»Warten Sie«, sagte Louise. Sie nahm das Etui, ließ sich den Schlüssel zeigen, schloss auf. Der Hund drängte sich an ihr vorbei, Thomas Ilic hielt sich dicht hinter ihr, Claus Rohmueller blieb, wo er war. Sie sah den Hund in den ersten der Räume laufen, die von dem großen Flur abgingen, dann kam er zurück, lief in den nächsten, kam zurück, verschwand erneut.
Praktisch, dachte sie.
»Wo ist er?«, fragte Claus Rohmueller heiser. In einem hohen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sah sie, dass er hinter ihr auf der Schwelle stand, die Hand am Rahmen, das Gesicht leichenblass.
Sie warteten. Der Hund erschien nicht wieder.
Thomas Ilic folgte dem Hund, die Hand am Holster. »Er ist hier«, hörte sie ihn sagen.
Sie betrat den Raum – das Wohnzimmer. Der Hund lag vor einer Couch und wedelte mit dem Schwanz.
Thomas Ilic stand am Durchgang zur Küche und schüttelte den Kopf.
Sie kehrte in den Flur zurück, sah ins Schlafzimmer, ins Bad, ins Esszimmer. Nadine war nicht da.
Rohmueller, der noch immer auf der Schwelle stand, blickte sie verängstigt an. Erst jetzt begriff Louise, dass auch er an Suizid gedacht hatte.
»Sie ist nicht hier«, sagte sie.
Nadines Wohnung war in etwa so, wie Louise sie sich vorgestellt hatte, seit sie den Vater kannte – ein zurückhaltender Traum aus Design, Ästhetik, Understatement, ohne Prunk und Protzerei. Eine elegante Ledercouch, die Stereoanlage von Bang & Olufsen, Designer-Regale, alles in Brauntönen und mattem Weiß, nur der Apple-Laptop auf dem Schreibtisch leuchtete hell im Sonnenlicht. Kein Staub, keine herumliegenden Kleidungsstücke, nicht einmal ein Bleistift, der übersehen worden war.
In der großen Küche ein paar Farbtupfer und Edelstahl, knallige Küchenstühle, teures Geschirr von Rosenthal. An der Wand hing ein Plakat von einer länger zurückliegenden Ausstellung über Jack Kerouac in der Public Library von New York. Im Schlafzimmer warf sie einen Blick in den meterbreiten Schrank – MaxMara, Escada, Ralph Lauren, Handtaschen von Gucci und Louis Vuitton, die Jeans von Armani, Halstücher von Hermès, alles mit unendlicher Sorgfalt gefaltet, gelegt, aufgehängt.
Die Akribie lag in der Familie.
Einen Moment lang kam sie sich schäbig vor in ihrem immergleichen Outfit – Bluse, Jeans, Converse-Turnschuhe.
Claus Rohmueller hatte sich auf die Couch gesetzt und starrte vor sich hin. In dem Moment, in dem er die Wohnung betreten hatte, schien er in sich zusammengefallen zu sein, vielleicht vor Erleichterung, dass das Schlimmste wohl nicht geschehen war, vielleicht auch nur vor Erschöpfung.
Sein Blick fiel auf ihre Hände, und schon kehrte die Angst in seine Miene zurück. Wie Thomas Ilic hatte sie Wegwerfhandschuhe angezogen.
»Wo ist das Telefon?«
Er deutete hinter die Couch.
Das Telefon stand auf einem kleinen, antiken Tischchen. Keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Sie nahm das Mobilteil aus der Station. Die letzten zehn Nummern, die Nadine gewählt hatte, waren mit Datum und Gesprächsdauer gespeichert. Am vergangenen Freitag »Papa Büro«, »Papa Handy«, »Mama Handy«, »Zuhause«, »Pizza«, »Taxi«, »Beatrice«. Am Samstag »Beatrice«, »Inge«, »Rudi«.
Sie notierte die Namen, Nummern
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