Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
untersetzte Frau mit dunkelorange gefärbten Haaren und rosafarbenem Morgenmantel öffnete. Ihre Augen hetzten von einem zum anderen und blieben dann auf Louise liegen. Dass vier Polizisten vor ihr standen, musste ihr nicht erst gesagt werden. »Um Himmels willen«, flüsterte sie. Sie legte die Hand auf den Mund und zog den Kopf ein.
»Keine Sorge …«, sagte Louise beruhigend.
Aber die Frau dachte ganz offensichtlich nicht an Eddie. »Sie dürfen doch nicht her kommen! Gehen Sie, schnell, bevor er aufwacht!« Sie wollte die Tür schließen.
Louise hob die Hand, hielt die Tür offen. »Sind Sie Gabriele Holzner? Eddies Mutter?«
»Er wird …«, flüsterte die Frau. »Er wird …«
Sie sahen sich an. Erst jetzt fielen Louise die gelblichen Stellen an der linken Schläfe und um das linke Auge der Frau auf. Unter dem Auge war eine leichte Schwellung zu erkennen.
Zorn stieg in ihr hoch.
It’s a man’s world.
Sie hatte lange nicht an diesen Satz gedacht. Vor Jahren hatte sie ihn als Aufkleber an der Heckscheibe eines Autos gesehen. Im Kofferraum hatte ein entführtes Mädchen gelegen. Annetta, in der Mitte gefaltet wie ein Stück Papier, vergewaltigt, geschlagen, stranguliert.
»Ihr Sohn ist verschwunden, Frau Holzner, und wir …«
»Aber ich kann Sie nicht reinlassen!«
Louise nickte. Sie hasste Situationen wie diese. Doch sie mussten Eddie und Nadine finden. Sie konnten keine Rücksicht nehmen. Obwohl sie wussten, was in diesem Haus geschehen würde, nachdem sie gegangen waren.
»Illi, ruf den Staatsanwalt an«, sagte sie, ohne den Blick von den verängstigten Augen abzuwenden. »Wir brauchen eine Durchsuchungsanordnung.« Ein kleiner, fieser Trick, der meistens half.
»Um Himmels willen … Aber seien Sie bloß leise, er schläft!«, flüsterte Gabriele Holzner und öffnete die Tür.
Sie führte sie durch eine dunkle Diele ins Wohnzimmer. Fünfzehn, sechzehn Quadratmeter, schätzte Louise, viel Plastik und Kunstfaser, das Mobiliar aus dem Baumarkt oder vom Sperrmüll. Die Fenster waren geschlossen, es roch durchdringend nach Zigarettenrauch und Muff. Zwei Wespen flogen um ein halbgegessenes Marmeladenbrot auf dem Esstisch, neben dem zerschlissenen Sofa lagen alte Ausgaben der BILD-Zeitung. Durch die kleinen Fenster fiel Sonnenlicht und ließ den Raum wie zum Hohn an manchen Stellen heimelig und freundlich erscheinen.
»’tschuldigung«, murmelte Gabriele Holzner. Sie eilte in die Diele zurück. Eine Tür fiel ins Schloss.
Sie hörten, dass sie sich übergab.
»Scheiße«, sagte Louise. Sie dachte, dass sie nach ihr sehen sollte. Aber sie bewegte sich nicht.
Die Toilettenspülung rauschte.
»Dass es Menschen gibt, die so leben können«, murmelte Sandy.
»So lebt man, wenn man arm ist«, sagte Thomas Ilic.
Hans Meirich nickte. »Gib ihnen Geld, und sie ändern sich.« Seine Augen lagen auf Louise. Er fuhr sich mit der Hand über den grauen Bart. Für einen Moment hatte sie den Eindruck, dass er nicht ernst meinte, was er sagte. Dass er es ihretwegen sagte.
Gabriele Holzner kam zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte Louise.
»Ja, ja.« Ein feindseliger Blick, dann schlug Gabriele Holzner die Augen nieder. Sie mochte Ende dreißig sein. Ihre Gesichtshaut war grau und welk, die Hände wirkten ausgetrocknet und ungepflegt, die Fingernägel waren angebissen.
»Sie sind Eddies Mutter, richtig?«
»Ja.«
»Haben Sie in der Zwischenzeit etwas von ihm gehört?«
Gabriele Holzner schüttelte den Kopf.
»Wer könnte etwas gehört haben? Hat Eddie Freunde im Ort?«
Gabriele Holzner zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.« Ihre Augen schweiften über den Raum, und sie errötete, als hätte sie erst jetzt bemerkt, in welchem Zustand sich das Wohnzimmer befand. »Der Dennis vielleicht.«
»Dennis?«
»Ostermann. Von der Schule.« Gabriele Holzner setzte sich an den Esstisch. Sekundenlang starrte sie auf das angebissene Marmeladenbrot, die Wespen. »Sie hätten nicht herkommen dürfen.«
Ja, dachte Louise. Wieder begegnete ihr Blick dem Hans Meirichs. Sie ahnte, dass er dasselbe dachte. Dass er ihre Kompetenz als Leiterin des Ermittlungsteams anzweifelte.
Sie hatte keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen.
»Wir müssen mit Ihrem Mann sprechen«, sagte sie.
Gabriele Holzner schaute zu Boden, dann hob sie den Kopf, und es schien, als blickte sie durch eines der Fenster in die Ferne.
»Frau Holzner, bitte holen Sie Ihren Mann.«
Gabriele Holzner sah sie an. »Können Sie mich
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