Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
sinnvoller sei, wenn er sich krankschreiben lasse. Er hatte sie ähnlich grimmig angeschaut wie Thomas Ilic eine Stunde zuvor und den Kopf geschüttelt und unverständliche Laute hervorgebracht, ohne die Lippen zu bewegen.
Sie hatte die Achseln gezuckt. Allmählich war sie es leid. Jeder Mann ein Held, darunter machten sie es wohl nicht mehr.
Gegen halb zwei rief Hugo Chervel an, der jenseits des Rheins das Kommando hatte.
Auch Chervel war ein Held.
»Alors?« , fragte er.
»Rien.«
Sie hatten früher schon zusammengearbeitet, zuletzt im Winter 2002/2003, als deutsche und französische Polizei einen Kinderhändlerring hochgenommen hatten, der von einem zenbuddhistischen Kloster im Elsass aus operiert hatte.
»Ich hatte einen Anruf aus Paris«, sagte Chervel auf Französisch.
»Verstehe.«
Sie schwiegen. Die Hektik auf der Chefebene setzte sich in alle Richtungen fort. Rohmueller hatte ein Steinchen ins Wasser geworfen, nun schwappten die Wellen bis Paris.
»Wenn es hilft«, sagte Chervel.
»Hoffen wir es.«
Sie beendeten die Verbindung.
Louise mochte Chervel, obwohl er wie Rolf Bermann ein Leitwolf war. Aber er ließ sich nicht hinreißen wie Bermann, beschränkte sich auf subtile Frotzeleien, wenn es mal wieder um die Deutschen und die Franzosen im Allgemeinen ging. Und er setzte den unendlichen französischen Bürokratismen Vernunft und Notwendigkeit entgegen. Wie Bermann war Chervel ein Relikt aus einer Epoche, in der Männer geglaubt hatten, der Geruch nach Aftershave, Zigaretten, Schweiß wäre sexy und sie selbst das Maß aller Dinge, insbesondere weiblicher Sehnsucht. Aber sie fand es amüsant, ihm dabei zuzusehen, wie er sich elegant und humorvoll in dieser untergegangenen Welt bewegte.
Er und Bermann entstammten derselben Spezies, waren reinblütige Chauvinisten – Chervel, weil er Frauen verehrte, Bermann, weil er vor Frauen letztendlich Angst hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Chervel einer Frau gegenüber jemals gewalttätig werden würde. Bei Bermann war sie sich nicht sicher. Rolf Bermann war durch Zufall auf der Seite der Guten gelandet. Sein Beruf hatte immerhin Teile seines Wesens sozialisiert, und das unterschied ihn von Männern wie Holzner. Viel mehr war es wohl nicht.
Sie schüttelte die Gedanken ab. Der Fall begann, sie zu infizieren, drang in sie ein wie ein Virus, der sich in jede Körperzelle stahl. Die Schutzmechanismen funktionierten nicht, schon lange nicht mehr. Sie hatte die Fähigkeit verloren, sich abzugrenzen.
Eddie, Nadine, Holzner, die Polizeidirektion, das war das eine.
Ihre Wohnung, das neue Auto, der neue Mann, das war das andere.
Aber das gab es nicht mehr, das eine und das andere. Die Grenzen hatten sich irgendwann vor längerer Zeit aufgelöst. Was Holzner und Eddie möglicherweise getan hatten, warf in ihrem distanzlosen Kopf die Frage auf, ob Chervel oder Bermann zu Ähnlichem fähig wären, nur weil sie Männer waren.
Sie hatte gehofft, dass sich durch Ben Liebermann etwas ändern würde. Das andere existierte doch jetzt wieder, in aller Deutlichkeit und Intensität. Aber ganz offensichtlich hatte sich nichts geändert, und dieser Gedanke machte ihr Angst.
Zeit für eine Pause, dachte sie, bevor es zu spät ist.
Missmutig verzog sie den Mund. Schon wieder? Pausierte sie nicht inzwischen jedes Jahr? Ein paar Wochen Suchtklinik hier, ein paar Monate Kloster da, hin und wieder Krankenhaus, wenn auf sie geschossen worden war, den ganzen vergangenen November krankgeschrieben, weil sie nicht verkraftet hatte, was Antun Lonc?ar alias Heinrich Schwarzer getan hatte, den ganzen Dezember Urlaub in Osijek bei Ben Liebermann …
Eine Bewegung ließ sie aufsehen. Hans Meirich kam auf sie zu und schaute sie fragend an. Sie schüttelte den Kopf. Nichts Neues von den Franzosen.
»Du siehst furchtbar aus«, sagte sie.
Meirichs Brauen senkten sich drohend.
»Geh heim, Hans.«
Der geschundene Mund öffnete sich einen Spalt, Meirich grummelte Unverständliches. Er sah tatsächlich zum Erbarmen aus. Holzners Schlag hatte mehr aufplatzen lassen als nur die Lippen. Die Augen lagen in dunklen Höhlen, der Blick fast schon verzweifelt, als wäre ihm in dem Moment, als ihn die Faust getroffen hatte, jeglicher Stolz und Selbstwert weggebrochen. Als hätte der Schlag seine ganze Existenz in Frage gestellt.
»Kann doch jedem passieren, Hans«, sagte sie und drückte seinen Arm.
Er nickte. Sein Blick war plötzlich kühl und wachsam.
»Du rührst ihn nicht an,
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