Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
verantworten müssen, auch wenn er minderjährig war. Was dann mit ihm geschehen würde, hing vor allem davon ab, ob und wann sie Nadine fanden.
Davon, was Eddie ihr angetan hatte.
Aber, dachte sie, vielleicht war ja alles auch ganz anders. Denn falls Dennis tatsächlich die Stimme eines Mannes gehört hatte, ginge es nicht mehr nur um Eddie und Nadine.
Karin, die Kommissarsanwärterin, rief an. Thomas Ilic nickte, murmelte ein paar Mal »Okay«, sagte »Danke«.
»Lass mich raten. Kein Taxi in die Wintererstraße.«
»Nein.«
»Haben wir eine Liste der Fahrtziele?«
»Ja.«
»Illi …«
Thomas Ilic lächelte. »Entschuldige. Also …« Er brach ab.
»Machst du schlapp, oder was?«
»Nein.«
»Weil ich dir jedes Wort aus der Nase ziehen muss. Wenn du schlappmachst, Illi, dann …«
Thomas Ilic hatte sich abgewandt, rieb sich die Schläfen.
»Tut mir leid.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, die kalt und verkrampft war.
»Mittags lässt die Konzentration nach.« Er lächelte vage.
»Kann ich mir vorstellen.«
»Aber es geht mir besser. Es geht mir wieder gut.«
Sie nickte stumm. Dasselbe hatte er vor zwei Jahren gesagt, als sie im Regen am Rappeneck gestanden hatten. Es geht mir besser, es geht mir wieder gut. Sie hatte ihm geglaubt, ein Fehler, den sie nicht ein zweites Mal begehen würde.
»Die Liste ist lang«, sagte Thomas Ilic.
»Dachte ich mir.«
Das Kagan lag im obersten Stock des »Solar Tower« am Bahnhof. Auch wenn am Sonntag gegen fünf Uhr morgens kaum Züge und Busse ein- und ausfuhren, mussten sie damit rechnen, dass sich auf der Fahrtenliste nicht nur Club-Gäste befanden, sondern auch Reisende.
Die Ochsentour.
Das Personal von Wiener, Oscar’s, Kagan. Die Taxifahrer, die Fahrgäste. Serge, der Exfreund. Sie hatte Thomas Ilic bitten wollen, das zu übernehmen, doch jetzt waren die Zweifel da. Was konnte man ihm zumuten, was nicht?
»Ich bin gesund , Louise.« Seine Stimme klang ein wenig grimmig. Wieder schien er ihre Gedanken erraten zu haben.
Sie begriff, dass sie erneut dabei war, einen Fehler zu begehen. »Kannst du die Fahrtenliste übernehmen?«
Er nickte, aber sie spürte, dass er verärgert war.
»Und jemand muss mit den Leuten von Wiener, Oscar’s und Kagan reden.«
»Ja.«
»Karin oder jemand vom Dezernat OK soll dir helfen.«
Thomas Ilic stand schweigend auf und hielt ihr die Hand entgegen. Sie reichte ihm den Autoschlüssel.
»Aber du musst mir was versprechen.«
»Ich verspreche es.«
»Ich will es hören, Illi.«
Thomas Ilic seufzte. »Okay. Was?«
»Wenn irgendwas nicht geht, sagst du es.«
»Es geht mir gut, Louise.«
»Wenn nicht, sagst du es. Versprochen?«
»Ja, ja, versprochen.« Er setzte sich neben sie. »Ich kann nicht mehr, Louise. Es geht mir beschissen. Die Welt bricht zusammen. Katastrophe.«
Sie schwieg.
Thomas Ilic erhob sich, lächelte verbissen und ging.
Nein, gute Scherze hatte er noch nie gemacht.
6
Eine Stunde später hatte das Warten ein Ende gefunden. In der Scheune arbeiteten sich die Techniker in Mikrospurenanzügen Zentimeter um Zentimeter voran. Bereitschaftspolizisten aus Lahr und Schutzpolizisten vom Revier Breisach mit Unterstützung vom Revier Freiburg-Süd bewegten sich in einer langen Kette über das Feld in Richtung Wald. Über dem Rhein und den angrenzenden Wäldern und Feldern auf deutscher Seite flog der Hubschrauber. Auf französischer Seite durchkämmten Kollegen der Brigade de Gendarmerie aus Colmar das linke Rheinufer. Beeindruckt blickte Louise über die Szenerie. Niemand hatte es bislang ausgesprochen, aber die Hintergründe schienen klar zu sein. Rohmueller hatte ein paar Telefonate geführt. Auf Chefebene war Hektik ausgebrochen.
Wenn es, dachte sie, nur immer so einfach wäre.
An der Straße standen Streifen- und Mannschaftswagen, außerdem Übertragungswagen der Fernsehanstalten. Hinter einer Absperrung wartete eine Handvoll Reporter auf die Pressesprecherin der Polizeidirektion. Louise hatte sie eben gebrieft und losgeschickt. Energisch schritt sie den Pfad in Richtung Straße hinauf, die azurblaue Bluse leuchtete im bräunlichen Grün des Feldes.
Hans Meirich war zurück, genäht, gepflastert, fahl im Gesicht. Er hielt sich abseits und sprach nicht, Sprechen tat natürlich weh. Was vor dem Haus der Holzners geschehen war, schien ihn nachhaltig beeindruckt zu haben. Der alte Hase, vor versammelter Mannschaft von einem Proleten zu Boden geschlagen.
Sie hatte ihn gefragt, ob es nicht
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