Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
klar?«
Seine Brauen hoben sich fragend.
»Holzner. Du rührst ihn nicht an.«
Meirich winkte generös ab. Nein, ich doch nicht.
Helden eben.
Lubowitz, einer der Techniker vom Dezernat 42, war vor die Scheune getreten und winkte sie zu sich. Er hielt ein Tütchen hoch. Während sie zu ihm ging, versuchte sie zu erkennen, was sich darin befand.
Ein Zigarettenstummel, von dem kaum mehr als der Filter übrig war.
»Ziemlich frisch«, sagte er. »Marlboro, wenn du mich fragst. Die sieben.«
Sie blickte in die Scheune. Mittlerweile staken etwa zwei Dutzend Spurentafeln im Boden; die sieben befand sich unweit des Eingangs. Louise sah zu Lubowitz hoch, der gut einsneunzig war, ein ungepflegter, gelegentlich knurriger Schlaks. Mehr wusste sie nicht von ihm. Groß, ungepflegt, knurrig, genial, das war alles. Sie begegneten sich beinahe täglich, und sie kannte nicht einmal seinen Vornamen. Niemand, dachte sie, kannte seinen Vornamen. Lubowitz war Lubowitz.
»Was heißt ziemlich frisch?«
»Lag höchstens einen Tag da. Schau ihn dir mal genau an.«
Sie nahm das Tütchen, drehte und wendete es, ein Stummel, wie Stummel eben aussahen. »Und?«
»Bin ich Sherlock Holmes oder du?«
»Sag schon.«
»Er wurde nicht ausgetreten, Bonì, er ist runtergebrannt.«
»Habt ihr Brandspuren?«
»Nicht den Hauch davon.«
»Da hatte jemand Glück.«
»Muss einer von den Bösen gewesen sein. Die Guten haben kein Glück.«
»Was ist mit der Decke?«
»Fasern. Rot, reiner Kunststoff. Irgendwas ganz Billiges, was du in jedem Kaufhaus kriegst.«
Sie nickte. »Die Decke ist wichtig.«
»Kann doch auch der Kleinen gehören.«
»Der Kleinen?«
Lubowitz rollte die Augen. »Nerv mich nicht, Bonì.«
Sie schwieg.
»Der Frau«, sagte Lubowitz.
»Die Decke gehört dem Täter, oder sie hat sie hier gefunden.«
Lubowitz nickte bedächtig.
»Was denkst du, kann es …«
»Ich denke nicht, Bonì. Ich schaue nur.«
»Kann es hier passiert sein?«
»Du meinst, kann sie hier geschlagen und vergewaltigt worden sein? Dafür gibt es keine Anzeichen. Keinerlei Kampfspuren. Da drüben hat jemand gelegen, aber viel mehr war da nicht.«
»Okay. Noch was?«
Er seufzte. »Ich geb dir den kleinen Finger, und du willst den ganzen Kerl.«
»Also?«
»Blut, Haare, Haut, Urin, Schuhabdruckspuren. Eine verfaulte Bananenschale. Tote Mäuse. Skelettierte Mäuse. Steinharte Kaugummis. Fast steinharte Kaugummis. Verrostete Nägel. Die Scheiße von Katzen, Hunden, Ratten, Hasen, Füchsen …«
Sie hob die Hand, um ihn zu bremsen.
»Das hörst du dir jetzt an, Bonì«, sagte Lubowitz und wirkte zum ersten Mal in diesen Minuten zufrieden.
Eine halbe Stunde später kam Reinhard Graeve, der seit sechs Monaten das Kunststück fertigbrachte, unaufdringlich in die Rolle des Kripoleiters hineinzuwachsen und doch in jeder Sekunde Autorität auszustrahlen. »Wir werden eine Soko aufrufen«, sagte er. »Sie bekommen alles, was Sie brauchen. Leute, Technik, Zeit.«
»Das geht ja schnell«, sagte Louise.
»Tja«, sagte Graeve.
Sie standen abseits auf dem Feld, sahen zu, wie die uniformierten Kollegen im Wald verschwanden. Lubowitz war mit seinen Technikern abgezogen, der Hubschrauber rheinabwärts geflogen, Meirich in die Direktion gefahren. Plötzlich war die Stille zurückgekehrt und mit ihr eine merkwürdig unwirkliche Atmosphäre. Ein Lauern lag über der Szenerie, als würden sie beobachtet. Als sähen die Scheune, das Feld, der Wald dabei zu, wie ihnen Stück für Stück die Geheimnisse entrissen wurden.
»Lassen Sie mich raten. Sie hatten Anrufe.«
Graeve lächelte. »Aus Bonn, Berlin und Stuttgart.«
»Rohmueller zieht die Strippen.«
»Verurteilen Sie ihn nicht. Wenn Sie in seiner Lage wären, würden Sie auch alle Möglichkeiten nutzen, die Sie haben.«
»Zum Glück hab ich leider keine Kinder.«
Graeve hob eine Augenbraue und sah mit einem Mal sehr väterlich aus. Er besaß viel von Bobs Effizienz und ein wenig von Almenbroichs Menschlichkeit. Vielleicht mal wieder ein Chef, den man morgens um sechs in seinem Büro mit privaten Problemen heimsuchen konnte.
Sie lächelte leicht. Eine Option für die Zukunft.
Chervel rief an. Rien.
Thomas Ilic rief an. Nichts.
Er stand mit einer Handvoll Kollegen am Bahnhof und zeigte Fotos von Nadine herum. Andere Kollegen besuchten Taxifahrer, die am Sonntagmorgen Dienst gehabt hatten, zu Hause oder an Standplätzen. Ein Taxifahrer hatte Nadine früher einmal gefahren, aber nicht vor ein paar
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