Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
verbreiteten. Die Brille mit den Stahlbügeln hatte er im Fallen verloren, unversehrt lag sie vor ihm. Sein Arm bewegte sich, die Hand tastete nach der Brille, ohne sie zu erreichen.
»Gleich kommt Hilfe«, flüsterte Louise und zwang sich weiter, auf eine geöffnete Wohnungstür zu, schrie »Josepha!«, immer wieder, während sie in die Wohnung stürzte, ein schmaler Gang, der Duft nach Lavendel, Knoblauch, Kaffee, sie wandte sich nach rechts, Noureddine nach links, das Bellen setzte wieder ein, wieder der hohe Ruf, aber die Hunde gehorchten nicht, bellten weiter, nun von ganz nah. Am Ende des schmalen Ganges eine Tür, abrupt blieb sie stehen. Zwei faustgroße Löcher im Holz auf Brusthöhe, am Boden Holzsplitter und vereinzelt Blutstropfen.
»Josepha?«
»Vorsicht, die Hunde«, sagte Josepha Ettinger ruhig.
»Ist jemand verletzt?«
»Nein.«
Wieder der hohe Befehl, diesmal gehorchten die Hunde.
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Nein.«
Noureddines Stimme aus einem der anderen Räume, alles in Ordnung, hier ist er nicht, er muss noch rausgekommen, vielleicht nach oben gelaufen sein. Dann stand Noureddine vor ihr, ein hagerer, pockennarbiger Mann mit ernstem Blick. Er legte seine Hand an ihren Unterarm. »Tout bien?«
Sie nickte.
Er wandte sich ab, verließ die Wohnung. Sie hörte seine leise Stimme, er sprach mit Ben Liebermann, dann Ben Liebermanns Stimme, he will make it , everything okay in there?
»Oui« , erwiderte Noureddine.
Sie wandte sich der zerschossenen Tür zu. »Ich komme jetzt rein.«
»Ja«, sagte Josepha Ettinger.
Ein kleines Schlafzimmer, am Bett zwei Hunde und drei alte Frauen. Josepha stand, einen riesigen Revolver in der Hand, ihre Schwester kniete zwischen den Hunden und hielt sie am Halsband, die dritte Frau, die Ordenstracht trug, saß auf dem Bett. Mit der einen Hand wischte sie sich Tränen von den Wangen, mit der anderen streichelte sie über einen Körper, der unter der Bettdecke verborgen war. Trotz der Decke sah Louise das Zittern, hörte das gedämpfte Wimmern.
Grenzenlose Erleichterung überkam sie.
Grenzenlose Erschöpfung.
Sie sank auf einen Stuhl und begann zu weinen.
»Jetzt ist alles in Ordnung, Kind«, sagte Josepha Ettinger, vielleicht zu ihr, vielleicht zu Nadine, wer wusste das schon, welche Rolle spielte es schon. Sie hatten Nadine gefunden.
22
Zehn, fünfzehn Minuten waren vergangen. Sie saß noch immer auf dem Stuhl, sah die Menschen um sich herum durch einen Schleier, rasche Bewegungen, leise Schritte, gedämpfte Frauenstimmen. Die Tür war wieder geschlossen. Am Rande hatte sie mitbekommen, dass Josepha Ettinger allen anderen den Eintritt verweigerte, Ben Liebermann, den französischen Polizisten, selbst Claus Rohmueller. Geben Sie ihr noch ein paar Minuten, verstehen Sie nicht, sie kann noch nicht, und wieder hatte sie nicht gewusst, wen Josepha Ettinger meinte. Maria Ettinger hatte ihr ein Glas Wasser in die Hand gedrückt, sie hielt es, ohne getrunken zu haben. Ja, dachte sie, jetzt ist alles in Ordnung, und zehn, fünfzehn Minuten lang erlaubte sie sich den Luxus, daran zu glauben.
»Gérardmer«, sagte Ben Liebermann langsam.
»Schreib’s dir auf.«
»Kann ich mir merken. Und wann?«
»Sobald sie sich erholt hat. Bring sie hin, und dann fahr nach Freiburg zurück. Das schaffst du bis neun.«
Ben Liebermann nickte schweigend.
Sie hatte eben in Gérardmer angerufen. Onkel Pierre, der erst einmal nachgefragt hatte: welche Louise? Man vergaß sie langsam in Gérardmer. Aber Onkel Pierre würde die Gästezimmer herrichten.
Und du, Louise, kommst du auch?
Vielleicht später. Vielleicht in den nächsten Tagen. Vielleicht.
Sie saß dicht neben Ben Liebermann an einem großen Eichentisch in der Küche. Auf dem Tisch standen drei weiße Tässchen mit Kaffeeresten, ein Glas mit Milch, drei Teller mit halbgegessenen Stücken Apfelkuchen, eine Schale mit Brühe. Drei alte Frauen und eine junge beim Nachmittagskaffee, dann hatte der Collie gebellt.
Josepha am Fenster, beschrieb den Hund und den Mann.
Im Haus herrschte gespenstische Stille. Henri war ins Krankenhaus gebracht worden, Noureddine und die Gendarmen suchten nach dem Mann, der es bis vor die Schlafzimmertür geschafft hatte und erst von Josepha Ettinger vertrieben worden war. Ein britischer Revolver aus dem Zweiten Weltkrieg. Familienerbe, hatte sie gesagt. Dass der noch funktionierte …
Ein paar Minuten zuvor hatte sie Rolf Bermann informiert. Wer ist es, Louise?, hatte er gefragt. Sie
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