Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
da, sah sie an. Zum ersten Mal war in seiner Miene eine Andeutung von Traurigkeit zu erkennen.
»Kommen Sie zur Beerdigung?«
»Wenn ich kann.«
»Wird ’ne kleine Beerdigung. Nicht, dass Sie was Großes erwarten.«
»Kein Problem.«
»Ich, die Gabi, der Dennis, Sie, ein paar Kinder aus der Schule, und das war’s dann auch schon. Wir Holzners sind nicht so beliebt.«
Sie nickte. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Dann wird’s auch kommen, das Gute«, sagte Holzner und stieg ein.
27
Thomas Ilic saß in einem Kämmerchen der Verwaltung auf dem Boden. Vor ihm lagen drei Personalakten mit rotem Einband.
Ein junger, unruhiger Rheinländer mit schnürsenkellosen Turnschuhen hatte sie zu ihm gebracht. »Braucht ihr sie noch?«, fragte er.
»Nur eine«, sagte Louise.
Thomas Ilic nahm die mittlere Akte und stand auf. Er wirkte erschöpft, fand sie, und irgendwie fehl am Platz in diesem Raum, in diesem Fall, vielleicht sogar, seit seiner Rückkehr aus dem Krankenstand, in diesem Beruf. Irgendwie war er nie wirklich zurückgekehrt. Er hatte sich zu weit entfernt, zu stark verändert, was man ihm nicht vorwerfen konnte, aber man musste es zur Kenntnis nehmen. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob sich die Veränderungen jemals mit seiner Arbeit vereinbaren lassen würden. Ob er jemals zurückkehren würde zu ihnen, zu ihr.
Plötzlich wusste sie, dass sie ihn nicht mitnehmen wollte, später. Sie hätte ihn damals nicht zum Rappeneck mitnehmen dürfen, sie durfte ihn nicht zu Hans Meirich mitnehmen.
»Meirich?« , fragte Alfons Hoffmann entsetzt.
Louise und Thomas Ilic schwiegen. Sie standen in Alfons Hoffmanns Büro, der eine große Tasse Tee in der einen, ein Schokocroissant in der anderen Hand hielt. Bin halt nervös, hatte er mit einem Achselzucken gesagt, als sie eingetreten waren. Sie hatte die Personalakte vor ihn gelegt, die Seite mit dem Foto aufgeschlagen.
Alle drei schauten sie noch auf das Gesicht, schon damals mit Bart, schon damals großväterlich, obwohl er auf dem Foto viel jünger aussah als heute.
Hans Meirich, Kripo Freiburg.
Undenkbar, schoss es Louise durch den Kopf.
»Warten wir lieber, bis Rolf bei Engele fertig ist«, sagte Thomas Ilic. »Vielleicht …«
»Nein«, sagte sie.
»Doch nicht der Hans Meirich«, murmelte Alfons Hoffmann.
Sie musste nicht warten. Sie war sich sicher. Die Blicke Hans Meirichs, sein Verhalten, seine vorsichtigen Fragen, seine Jovialität, die Zurückhaltung ihr gegenüber. Da hatte sich einer mit Strategie ins Team gespielt.
Dein Fall. Was kann ich tun?
Und dass er sich nach Holzners Schlag nicht hatte krankschreiben lassen wollen, sondern in der Soko geblieben und überall dabei gewesen war – in Grezhausen bei der Suche nach Nadine, bei der Vernehmung von Holzner, im Katzental, nachdem Haberles Leichnam entdeckt worden war, mit Scuma in Haberles Wohnung in Horben.
Die Verzweiflung in seinen Augen, die natürlich nicht Holzners Schlag verursacht hatte. Die Arztbesuche, da hatte er Gelegenheit gehabt, Haberle oder den Mörder oder beide zu treffen. Holzners Zigarette – Meirich war bei der Festnahme Holzners dabei gewesen. Wer außer ihm hätte auf die Idee kommen sollen, eine halbgerauchte Zigarette aus Holzners Vorgarten in die Scheune der Ettingers zu bringen?
Die Angst vor Holzner, nachdem der ihn niedergeschlagen hatte, und die Scham wegen der Angst. Ein altgedienter, erfahrener, bewaffneter Kripohauptkommissar, der inmitten von sechs Kollegen Angst vor einem Proleten hatte? Meirich war ganz offensichtlich nicht das, was zu sein er vorgab, all die Jahre vorgegeben hatte. Kein harter, überlegener, alter Bulle ohne Schwächen. Auch Meirich verbarg sich hinter einer Fassade.
Sie hätte es schon früher wissen können.
»Konstantin Hilpert von den Fahndern hat einen Eintrag wegen des Verdachts auf sexuelle Belästigung einer Polizeischülerin«, sagte Thomas Ilic. »Es gab ein Ermittlungsverfahren, aber der Verdacht konnte nicht verifiziert werden, und dann stand Aussage gegen Aussage. Die Spurenlage war schlecht, das Verfahren wurde eingestellt.«
»Wann war das?« In Alfons Hoffmanns Stimme schwang Hoffnung mit.
»1993. Er war an der Landespolizeischule bei einem Lehrgang, die Polizeischülerin bei einem Laufbahnlehrgang Mittlerer Dienst Schutzpolizei. Sie ist zu einem weiblichen Personalratsmitglied gegangen und hat gesagt, er hat sie betatscht.«
»Siehst du«, sagte Alfons Hoffmann.
»Es ist Meirich«, bekräftigte Louise.
Thomas Ilic
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