Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
wartete der einsame nächtliche Parkplatzdienst. Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, mit ihm über Dinge zu sprechen, die nichts mit diesem Fall zu tun hatten. Das alles hinter sich zu lassen, mal wieder auszuschlafen mit Ben Liebermann, über Dinge zu sprechen, die nur sie betrafen. Die Vergangenheiten mussten geklärt, die Perspektivfragen beantwortet werden.
Vielleicht tatsächlich in die Provence fahren zu ihrer Mutter. Auch wenn sie wusste, was ihre Mutter sagen würde.
Pass auf dich auf, Louise. Die sind alle gleich. Hast es ja am eigenen Leib erfahren.
Es gibt auch andere, Mama.
Und das soll so einer sein?
Vielleicht. Lohnt es sich nicht immer wieder, das rauszufinden?
Ja, sie würden in die Provence fahren, irgendwann. Wenn Hans Meirich und der Mann aus Colmar in Haft genommen waren. Wenn Nadine mit ihrem Vater nach Bonn zurückgekehrt war. Die Ettingers nach Grezhausen. Wenn der Fall abgeschlossen und dem Staatsanwalt übergeben worden war.
Dann, vielleicht, war Zeit für das andere Leben.
»Ich frage mich, wie verzweifelt er ist«, sagte sie.
»Ja«, sagte Löbinger.
»Wie sehr er sich schämt.«
»Wieso sollte er sich schämen?«
Sie erzählte, was Josepha Ettinger berichtet hatte. Dass der eine, der Großvater, immer wieder gesagt habe, es tue ihm leid. Meirich war seit Jahrzehnten Polizist und nun zum Straftäter geworden.
Natürlich schämte er sich. Natürlich war er verzweifelt.
Die Frage war nur: so verzweifelt, dass er trotz seiner Angst vor Waffen schießen würde? Oder sich das Leben nehmen würde, wenn sie vor der Tür standen?
»Du sprichst mit ihm«, sagte Löbinger. »Du sagst, du bist allein. Wenn er aufmacht, holen wir ihn uns.«
Sie sah Bermann an. In seinen Augen lag kaum verhohlene Wut. Er hätte es sich einfach machen können – Meirich war in Löbingers Dezernat. Doch er machte es sich nicht einfach. Meirich war ein Kripomann, war in seiner, Bermanns, Soko. Ging alle an.
Er nickte.
Der Hausmeister ließ sie hinein. Sie nahmen den Lift, die Kollegen vom Revier Nord verteilten sich aufs Treppenhaus.
Vor Meirichs Tür warteten sie einen Moment. Dann bezogen Löbinger und Bermann links davon Position.
Louise läutete. Nichts geschah.
»Meirich«, sagte sie und klopfte gegen die Tür. »Ich bin’s, Louise Bonì.«
Nichts.
»Mach auf. Es hat doch keinen Sinn mehr.«
Die Tür öffnete sich einen Spalt, so weit, wie es die Sicherheitskette zuließ. In der Wohnung war es dunkel, doch im Licht der Treppenhausbeleuchtung erkannte sie Meirichs bärtiges Gesicht, die beiden Pflaster auf den Lippen.
»Louise, Gott sei Dank!«, flüsterte er undeutlich. Er schloss die Tür. Sie hörte, wie die Sicherheitskette ausgehängt wurde, die Tür ging auf, sie drückte dagegen, wich gleichzeitig zur Seite, um Platz für Löbinger und Bermann zu machen. Meirich schrie überrascht auf, sie sah Bewegungen, ineinander verschlungene Leiber, hörte Handschließen klicken, einen dumpfen Schlag, noch einen, ein Körper stürzte, eine weiß schimmernde Vase fiel zu Boden und zersprang klirrend.
Dann war sie in der Wohnung und machte Licht.
Meirich lag auf der Seite, die Hände auf dem Rücken, schnappte nach Luft.
Ein kleiner, viereckiger Flur, an der Garderobe Jacken und Sakkos, am Boden, überall verteilt, Schuhe, ein Stapel Pizzakartons, der umgefallen war. Drei Türen, die offen standen, Nasszelle, winzige Küche, ein Zimmer, doch nur das Flurlicht brannte. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft, nach Essensresten, muffiger Kleidung, ungelüfteten Räumen.
Bermann bückte sich nach einer Pistole, die vor der Küche lag.
»Was sollte das jetzt?«, fragte Löbinger gelassen.
»Was meinst du?«, fragte Bermann zurück.
Löbinger antwortete nicht.
»Helft mir«, sagte Louise und kniete neben Meirich nieder.
Sie hatten Meirich auf ein Sofa gesetzt, das ihm offenbar auch als Bett diente. In die Decke gesunken hockte er da, starrte vor sich hin. Die Oberlippe war wieder aufgeplatzt, das Pflaster hatte sich gelöst, Blut sammelte sich in seinem grauen Bart.
Löbinger hatte ihn über seine Rechte als Beschuldigter aufgeklärt. Ein bizarrer Moment. Sätze, die Hans Meirich jahrzehntelang selbst gesagt hatte.
»Das Arschloch ist ein Messie«, sagte Bermann.
In der Spüle und auf dem winzigen Küchentisch Stapel von verschmutztem Geschirr mit eingetrockneten Essensresten, auf dem Herd benutzte Töpfe. Im Bad ein Haufen mit Schmutzwäsche, verdreckte Handtücher an Plastikhaken,
Weitere Kostenlose Bücher