Jäger
sie
bei ihrer langsamen Wanderung auf dem Meeresboden hinterließen,
konnte ich kaum ausmachen.
»Wir haben sie«, rief Dave. »Was tun wir als
Nächstes?« Alles war wieder in bester Ordnung. Der Gestank
verzog sich allmählich. Oder ich hatte mich mittlerweile daran
gewöhnt.
Während ich die Scheinwerfer bediente, navigierte Dave das
Tauchboot behutsam vorwärts.
»Sehen Sie das dort vorn?«, fragte ich. »Die
Fächer… Und dort drüben diese gallertartigen Buckel
– noch weiter drüben.« Ich zog den Greifarm
zurück und bestückte die Spitze seiner Klaue mit einem
drehbaren Ansaugrohr. »Was, glauben Sie, ist das?«
»Meeresgänseblümchen?«, fragte Dave, als sei
er bemüht, meine Hoffnungen nicht zu enttäuschen.
»Manche würden sie wohl so nennen. Im Scheinwerferlicht
sehen sie leicht gelblich aus. Aber es sind keine Siphonophoren. Sie sind etwas anderes.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, da ich befürchtete, nur lose
Ablagerungen vor mir zu haben. Hatte ich mich getäuscht? Aber es
waren keine Ablagerungen. Diese Dinger lebten.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, gestand Dave.
»Sie sehen wie kleine, zusammengequetschte Ballons
aus.«
»Wie Schwimmkissen«, sagte ich. »Oder
Schaumfüllungen.«
Angesichts der Situation wirkten Daves Augen durchaus normal:
groß und rund vor Neugier und verschiedenen Vermutungen.
»Es sind keine Quallen oder Korallen. Und auch keine Algen
– nicht in so großer Tiefe.«
»Strengen Sie Ihren Grips an«, sagte ich, schwindlig vor
Glück. »Denken Sie entwicklungsgeschichtlich weit
zurück, denken Sie an lebende Fossilien.«
»Ediacara?«, fragte Dave und schüttelte sofort den
Kopf: Völlig unmöglich.
»Sie sagen es«, nickte ich. Meine Hände
zitterten.
Die ältesten bekannten großen Fossilien aus einer Zeit
zig Millionen Jahre vor dem Auftauchen der ersten Schalentiere oder
von Tieren mit Knochenskeletten sind entweder Bakterienkolonien, die
man auch als Stromatoliten bezeichnet, oder die eigentümlichen
Gebilde, die Adolf Seilacher Vendobionten nannte. Ein weiterer
Gruppenname für sie ist Ediacara, nach dem Ort in Australien
benannt, wo die ersten Exemplare gefunden wurden. Diese uralten
Lebensformen haben sich vor sechshundert Millionen Jahren auf dem
Grund von flachen Meeren angesiedelt. Alles, was sie
zurückgelassen haben, sind sandige Abdrücke, flache
Vertiefungen, wenig mehr als geisterhafte Spuren im Stein. Bis
jetzt.
Ich registrierte große radial oder gitterförmig
angeordnete Kammern, manche im Grund verwurzelt, andere nahe
über dem Meeresboden schwebend. Pilzähnliche Glocken;
anmutig wogende blattähnliche Fächer; segmentierte Halme;
gallertartige Luftmatratzen, die sich über den Schlick
ausbreiteten. Und überall um sie herum – vielleicht ihre
Vettern oder Nachkommen, möglicherweise sogar ihre Larven, ihre
Propagulen – die Form, die sie annehmen, wenn sie sich zu ihren
bevorzugten Standorten bewegen: die Xenos.
Ich spekulierte nur. Ich wusste nicht, ob es zwischen Xenos und
diesen urtümlichen Wunderwesen tatsächlich irgendeine
Verbindung gab. Aber hier waren sie – unsere kleinen Freunde,
die es sich auf dem Meeresgrund gemütlich gemacht hatten, gleich
um die Ecke vom Garten Eden. Falls das tatsächlich die letzten
Vendobionten waren, hatten sie offenbar eine sichere Nische gefunden,
in der sie sechshundert Millionen Jahre Evolution überstanden
hatten. Vielzellige Räuber – unter ihnen auch unsere
Vorfahren – hatten diese uralte Lebensform verdrängt und
sie gezwungen, sich in Gebiete in den Tiefen der Ozeane
zurückzuziehen.
Meine Fantasie ging mit mir durch. Zu viele voreilige Vermutungen
und zu wenig nüchterne Untersuchung – keine besonders
wissenschaftliche Herangehensweise.
»Ist das eine Qualle auf einem Stiel?«, fragte Dave.
Unsere Scheinwerfer erhitzten das Wasser über der erhellten
Fläche und veranlassten einige der Organismen, Flüssigkeit
auszustoßen oder auf die Größe kleiner Rosinen
zusammenzuschrumpfen. »Fahren Sie die Lichtstärke
herunter«, schlug ich vor.
Dave schob den Rheostat zurück. Goldenes Licht übergoss
jetzt den Meeresboden, absolut spektakulär und sehr
stimmungsvoll. Ich hätte gern ein Zimmer mit dieser Farbe
gehabt, in dem ich sitzen und träumen konnte. Träumen vom
Garten Eden.
Niemand weiß, was genau die Ediacara-Organismen sind. Wo
Unwissen herrscht, blüht die Spekulation. Und wo Spekulation das
Feld beherrscht, gedeihen mitunter auch die
Weitere Kostenlose Bücher