Jäger
gelbliches Licht.
Ich kann Russisch einigermaßen fließend lesen. Es
dauerte ungefähr zehn Minuten, bis ich hellwach war. Die
Druckgenehmigungen, Schreibmaschinentypen, Stempel und Unterschriften
(»Berija« entdeckte ich mindestens dreißigmal auf
ebenso vielen Seiten) sahen alle sehr, sehr authentisch aus. Ich
selbst hatte noch nie gehört, dass Banning Dokumente
fälschte, und auch sonst niemand, soweit ich wusste. Was seine
Karriere zerstört hatte, waren die Schlussfolgerungen gewesen,
die er seit Anfang der Neunzigerjahre aus dem vorhandenen Material
gezogen hatte. Dessen Authentizität war nie in Zweifel gezogen
worden.
»Woher, sagt er, hat er das?«, fragte ich.
»Offen gestanden haben wir beide in alten Archiven
gegraben«, erklärte Cousins. »Ich war letztes Jahr in
Irkutsk.«
»Es geht also nicht nur um Banning, sondern auch um
Sie?«
Er nickte nervös.
»Vieles davon stammt von der Universität in
Irkutsk«, bemerkte ich.
»Sie machen alte Akten der Öffentlichkeit
zugänglich«, sagte Cousins. »Glasnost lebt nach wie
vor.«
»Ich verstehe. Auf vielen der Dokumente, die offenbar
irgendetwas mit einem geheimen Forschungsprojekt zu tun haben, sehe
ich die Namen von Berija und Golochow. Um was ging es
dabei?«
»Golochow war am Anfang seiner Karriere, wie so viele von
uns, Idealist. Aber er und seine Verlobte waren Juden. Es gab
Schwierigkeiten – welcher Art, wissen wir nicht genau. Die
Golochows mussten damit rechnen, verhaftet und noch weiter nach Osten
deportiert zu werden. 1937 wandte sich Golochow an Berija, den
zukünftigen Leiter des NKWD, des Volkskommissariats für
Innere Angelegenheiten oder, schlichter gesagt, der sowjetischen
Geheimpolizei, und berichtete ihm, was er entdeckt hatte. Berija
begriff sofort, dass dies seine Eintrittskarte zu noch
Größerem war.« Cousins zog eine Kopie des Briefs
hervor, mit dem Golochow Berija um dieses Treffen ersucht hatte.
»Eine Woche später reichte Berija die Angelegenheit an
Stalin weiter. Golochow ergriff seine Chance beim Schopf und zeigte
Stalin ein paar Filme. Genosse Stalin genehmigte Silk auf der Stelle.
Berija ließ sich einen geeigneten Deckmantel für das
Projekt einfallen und verkaufte es als geheimes Forschungsprogramm
zur Herstellung von…«
»Von synthetischer Seide.«
»Ja. Die Operation bestand aus zwei Phasen. Zunächst
musste Golochow Darmbakterien so verändern, dass sie Gene von
seinen Phagen akzeptierten. Er rüstete sie mit dem aus, was man
als ein Schloss bezeichnen könnte, in das neue Gene wie ein
Schlüssel passten und durch das sie deshalb passieren konnten.
Dann musste er dafür sorgen, dass jeder – und ich meine
wirklich jeder – die neu gezüchteten Bakterien in
seinem Körper hatte. Silk begann damit, dass Golochow die
gesamte Bevölkerung mit veränderten Kolibakterien
infizierte. Es gibt eine Menge Möglichkeiten, dies in die Tat
umzusetzen – indem man Obst und Gemüse damit besprüht,
sie als Aerosol in der Luft verteilt, damit Türgriffe, Geld,
Kleidung bestreicht. Selbst ein Händeschütteln genügt.
Vogeldreck. Sogar Tierfutter. Sicherlich hatte er dabei die Hilfe von
Agenten, die glaubten, sie würden an einer geheimen, subversiven
kommunistischen Aktion teilnehmen. Manche haben möglicherweise
sogar geglaubt, es handle sich um bakterielle Kriegsführung
gegen den Kapitalismus.«
»Wann war das?«
»Die erste Phase startete 1935. Golochow begann seine
experimentellen Operationen zunächst in Russland, dann in
Deutschland, Japan und China. Er wollte eine feste Basis für
eventuelle spätere Pläne schaffen. Manche
Bevölkerungsgruppen nahmen die neuen Kolibakterien schneller auf
als andere, vor allem in Regionen, wo die sanitären
Einrichtungen primitiv waren. 1939 hatten sich die veränderten
Kolibakterien über ganz Russland verbreitet und nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs über die gesamte Erde.«
»Und heute werden wir bereits mit ihnen geboren?«
»Nein. Aber wir erwerben sie sehr schnell nach unserer Geburt
von unseren Eltern, von Haustieren und aus unserer Umgebung«,
erklärte Cousins. »Sie müssen wissen, Golochow
wählte widerstandsfähige Arten aus, deren
Überlebenschancen groß waren. Jetzt sind sie über die
ganze Erde verbreitet. Wir alle tragen Bakterien in uns, die von
außen programmiert werden können. Dergestalt programmiert,
dass sie chemische Substanzen produzieren, die unser Denken
verändern.«
»Wie eine zweigeteilte Bombe«, bemerkte ich. »Wir
tragen die eine
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