Jaegerin der Daemmerung
Zittern durchlief ihren Körper. Sie gab den Wölfen ein Zeichen, sich zurückzuziehen, und wollte sich abwenden, doch ihre Füße versagten ihr den Dienst. Sie konnte keinen einzigen Schritt tun. Dieser halbtote Mann mit seinem gramzerfurchten Gesicht und seinem ausgemergelten Körper hatte sie in seinen Bann gezogen.
Sie hob ihr Gesicht zum Himmel, bis der Schnee es mit einer dünnen weißen Maske bedeckte. »Warum jetzt?«, wisperte sie leise, wie eine Bitte, ein Gebet. »Warum verlangst du das ausgerechnet jetzt von mir? Hast du mir nicht schon genug genommen?« Auf eine Antwort wartend, stand sie da. Ein Blitz vielleicht oder sonst etwas. Ihr geflüstertes Flehen verhallte ungehört.
Raja heulte zum wiederholten Mal auf. Komm fort, kleine Schwester. Lass ihn, wo er ist. Er stört dich nur. Geh hier weg, bevor die Sonne zu hoch am Himmel steht.
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten hatte Ivory die Sonne vergessen, hatte nicht auf ihre eigene Sicherheit geachtet. Alles, was sie je gelernt und in Erfahrung gebracht hatte, löste sich angesichts dieses Mannes in nichts auf. Ein Teil von ihr schrie, sie solle sich endlich abwenden und fliehen, doch ein anderer, noch stärkerer Teil ihres Selbst fühlte sich wie magisch zu diesem Mann hingezogen. Päläfertiilam - wahrer Gefährte, ihr Gefährte. Der Fluch aller karpatianischen Frauen.
2
I vory sank neben dem liegenden Mann auf die Knie, fuhr mit den Fingern über sein Gesicht, ehe sie auf der Suche nach seinem Puls zum Hals glitten, obwohl das eigentlich überflüssig war. Ihr Herzschlag hatte sich längst seinem kaum noch spürbaren Puls angepasst. Nachdem sie ihm den Schnee aus dem Gesicht gestrichen hatte, machte sie sich daran, seine Wunden eingehender zu untersuchen. Sein Körper war mit Narben übersät - fast so wie ihr eigener. Seine Haut war eiskalt - und das, obwohl jeder Karpatianer schon im Kindesalter lernte, seine Körpertemperatur zu regulieren.
Kleine Schwester! Rajas Flehen schlug in warnendes Knurren um. Die Sonne geht auf.
Ivory war klar, dass er, wenn sie sich seiner nicht annahm, unweigerlich sterben würde. Ihr Herz geriet ins Stocken, als sie die Spuren betrachtete, die er hinterlassen hatte. Nur das hatte er bezweckt - in den Tod zu gehen. Die frischen Narben an Arm- und Fußgelenken verrieten, dass er bis vor Kurzem in Ketten gelegen hatte. In Ketten, die mit Vampirblut bestrichen waren, das sich bei jeder noch so kleinen Bewegung in sein Fleisch gebrannt hatte. Sie kannte nur einen Mann, der so mit seinen Gefangenen verfuhr: Xavier, der dunkle Magier. Der Drachensucher war aus der Gefangenschaft entflohen, doch statt in einem der umliegenden Dörfer Hilfe zu suchen, war er in die Tiefe des Waldes geflüchtet und hatte eine geeignete Stelle gewählt, um den Sonnenaufgang zu erwarten.
Von Unruhe getrieben, lief das Rudel herum, den besorgten Blick ständig gen Himmel gerichtet. Der dichter fallende Schnee bildete bereits eine zarte Decke auf ihren silbrigen Leibern. Mit einem Fluch auf den Lippen packte Ivory den Fremden an den Armen und brachte ihn in eine sitzende Haltung, um ihn hochzuheben.
Plötzlich flogen seine Augen auf - dunkle, unruhige Abgründe voller Leid, Entschlossenheit und Beherztheit. Ein Mann, der von den Feuern der Hölle gestählt worden war, der unsägliche Qualen durchlitten und nur dank seines eisernen Willens überlebt hatte. Ihn manipulieren zu wollen war aussichtslos, denn die Energie, die er verströmte und sie umfloss, war überwältigend.
»Lass mich«, befahl er ihr mit heiserer Stimme.
Als Ivory die geistige Kraft hinter der barschen Anweisung spürte, setzte sie alles daran, dem Druck nicht nachzugeben. Selbst die Wölfe waren nicht vor der mentalen Macht des Fremden gefeit. Als sie bemerkte, wie das Rudel immer weiter von ihr abrückte, gab sie ihm ein Zeichen stehen zu bleiben. Nur der starken Bindung zwischen ihr und den Tieren war es zu verdanken, dass die Wölfe nicht das Weite suchten - und das sagte viel über den Mann aus. Obwohl er schwach, halb verhungert und ausgemergelt war, erschien er unglaublich stark - und gefährlich.
Trotzdem erwiderte Ivory nichts. Stattdessen schüttelte sie stumm den Kopf und machte Anstalten, den Fremden emporzuheben. Sofort rückte der Drachensucher, wenn auch kaum merkbar, von ihr ab und legte überraschend sanft eine Hand auf ihren Arm. Ivory war, als würde sie vom Blitz getroffen. Ein warmes Kribbeln pulsierte durch sie hindurch, und unwillkürlich atmete sie
Weitere Kostenlose Bücher