Jaegerin der Daemmerung
fähig waren, und er war meilenweit davon entfernt, liebenswürdig zu sein. Er war verdammt, verflucht und unendlich hungrig.
Trotzdem kam Ivory immer näher. »Ich muss dich einfach nähren. Mein Rudel füttere ich auch oft, daher ist das eine Kleinigkeit für mich. Nimm mein Blut.«
Razvan, der sie durch seine Finger hindurch anschaute, erkannte einen besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht, auch wenn sie schlau genug war, ihm gegenüber weiter misstrauisch zu bleiben. Dennoch ließ sie einen Fingernagel wachsen, bis er lang und rasiermesserscharf war, und ritzte sich damit das Handgelenk auf.
Razvan griff nach ihrer Hand, doch eine Mischung aus Furcht und Adrenalin verlieh ihm Kraft, auch wenn er nur noch wenig davon besaß. »Nein! Ich will nicht!« Allein der Gedanke, von ihrem Blut zu trinken, machte ihn krank. Das Handgelenk, das sie ihm entgegenstreckte, beschwor Bilder eines gierigen Mauls herauf, das an einem zarten Handgelenk riss. Als er abermals schlucken musste, wandte er sich von ihr ab.
Wie erklärt man jemandem, dass man verdammt ist? Razvan schüttelte den Kopf. »Am besten bringst du mich wieder zur Erdoberfläche und lässt mich gehen.«
»Weshalb willst du dich nicht nähren? Vielleicht kannst du mir erzählen, wie ...«
Statt es ihr zu erzählen, zeigte er ihr alles. Sie musste sehen, wissen, was für ein Monster sie mit in ihr Versteck genommen hatte. Er berührte ihre Gedanken und überschwemmte sie mit seinen Erinnerungen: wie er sich am Handgelenk eines kleinen verängstigten Kindes zu schaffen gemacht hatte, während dessen Mutter zusehen musste, wie ihr Kind ausblutete; wie er geschrien und gegen seinen Peiniger angekämpft hatte; wie er seine Zwillingsschwester Natalya betrogen hatte und wie er beim Versuch, seine Tochter zu befreien, ein Messer in die Brust eines Drachen versenkt hatte.
Obwohl Ivory weiß wie Schnee wurde, schloss sie ihn nicht aus. Er spürte, wie sie unbefangen in seine Gedanken eindrang, wie sie seine Erinnerungen förmlich aufzusaugen schien und sichtlich interessiert das Buch seines Lebens las. Er zeigte ihr alles aus den Hunderten von Jahren, die er mit dem folternden und tötenden Xavier verbracht hatte. Der Magier hatte immer wieder Razvans Körper für grausame Taten benutzt und ihn mit übersinnlich veranlagten Frauen gepaart. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie zurückschrecken oder ihm ihre Faust in den Brustkorb schlagen würde, um ihm das Herz herauszureißen. Doch sie hielt durch und betrachtete alles ruhig und ohne Angst, wobei sie ihre eigenen Gedanken nicht preisgab.
Es dauerte eine Weile, bis Razvan merkte, dass er tief im Inneren wegen all der Jahre der Qual und des Leids weinte, wegen der Arroganz eines jungen Manns, der allen Ernstes gedacht hatte, er könne allein gegen einen Feind bestehen, der weitaus ältere und erfahrenere Krieger bekämpft und besiegt hatte. Schließlich merkte er, dass sein Kopf auf ihrem Schoß lag und ihre Hand über sein Haar strich, während ihm blutige Tränen über das Gesicht rannen.
»Siehst du nun, mit was du es zu tun hast?«, fragte Razvan. Zwanzig Jahre lang hatte er seine Flucht geplant, damit die Sonne endlich seine Seele reinigen und er im Leben nach dem Tod noch einmal von vorne anfangen konnte.
»Ich sehe mehr, als du denkst. Du hast vergessen, dass auch ich meine Erfahrungen mit Xavier gemacht habe.« Ivorys Finger glitten durch Razvans Haar, zogen kleine Kreise auf seiner Schläfe. »Außerdem hast du mir mehr über Xavier und seine Zaubereien verraten, als dir bewusst ist.«
Der seltsame Unterton in ihrer Stimme gefiel ihm gar nicht, im Gegensatz zu ihren Händen, die wahre Wunder bewirkten und seine geistigen und körperlichen Schmerzen gekonnt im Zaum hielten.
»Glaub mir, Ivory, du könntest ihn nicht in die Knie zwingen. Ich habe es in den vergangenen Jahrhunderten selbst unzählige Male versucht und bin stets gescheitert.« Wenn es nach Razvan ginge, hätte er sie weggestoßen, aber er brachte einfach nicht die nötige Kraft dafür auf. Ihre Hände verfügten über eine ganz eigene Magie. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie lange es her war, dass ihn jemand so zärtlich berührt hatte.
»Dann haben wir wohl dieselben leidigen Erfahrungen machen müssen«, entgegnete sie. »Ich kannte Rhiannon und ihren Gefährten. Als Xavier mich mit einem Zauber bannte und mich in die Tiefen des Waldes verschleppte, weihte er mich in seinen Plan ein, ihren Seelenpartner zu töten, damit er sie
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