Jaegerin der Daemmerung
unsterblich zu werden. Wie du siehst, bin ich nur noch ein Schatten meiner Selbst. Doch auch Xavier ist schwach, denn der Bau seiner neuen Festung hat ihn viel Kraft gekostet.«
Ivory atmete tief durch. Razvan sah, wie sie mit sich rang, ehe sie ihm ein Angebot machte.
»Du braucht dringend Blut.«
Als die leisen, bebenden Worte an sein Ohr drangen, schlug sein Herz wahre Purzelbäume in seiner Brust. Es war eine halbe Ewigkeit her, dass ihm jemand mit Freundlichkeit begegnet war.
»Vielen Dank für dein Angebot, aber ich muss es bedauerlicherweise ablehnen. Zu oft habe ich das Blut derer getrunken, die ich eigentlich hätte beschützen sollen. Und deins werde ich nicht annehmen.«
Ivory bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. »Ich kann deinen Hunger spüren.«
»Ich weiß. Hier in diesem engen Raum kann ich meine Bedürfnisse nur mühsam beherrschen. Ich bin untröstlich, dir so viel Kummer und Sorgen zu bereiten.«
Razvan wollte nicht, dass sie weiter auf seinen quälenden Hunger einging, den er in jeder Zelle seines Körpers spürte. Nur zu deutlich konnte er ihr Blut wittern, reichhaltig und warm, wie es durch ihren Körper hindurch pulsierte und nach ihm rief. Als er spürte, dass sich seine Reißzähne verlängerten und ihm das Wasser im Munde zusammenlief, konnte er kaum noch klar denken. Ihr Herzschlag hatte sich gänzlich auf seinen unregelmäßigen eingestellt, was ihm Sorge bereitete.
Razvan wusste nur wenig über wahre Gefährten, und das Letzte, was er jemals gewollt hatte, war, echte Emotionen zu haben. Es war schon schlimm genug, sich daran zu erinnern, wie es war, für jemanden Gefühle zu hegen, und er bereute all die abscheulichen Gräueltaten, die er begangen hatte. Dass er dabei von außen gelenkt worden und nicht Herr seiner Selbst gewesen war, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Aber sie hatte alles aufgewühlt und diese grausamen Erinnerungen wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins und seines Herzens gespült. Nachdem es vorher Hunderte von Jahren nur ein stumpfes Gefühl in seiner Brust gegeben hatte, stürmten nun die grausamen Bilder seiner bestialischen Taten auf ihn ein. Erinnerungen daran, wie er Frauen geschändet hatte, wie er sich von seinen eigenen Kindern genährt hatte, wie er seine Tante erstochen und jeden betrogen hatte, den er geliebt und der ihm etwas bedeutet hatte.
Er verfluchte seine pechschwarze Seele und die Tatsache, dass mit den Bildern seine Gefühle zurückgekehrt waren - für seine geliebte Schwester, für deren Sicherheit er gekämpft und die er am Ende dennoch betrogen hatte; für seine Tante, die er versucht hatte zu retten, der er aber, weil Xavier die Kontrolle über seinen Körper übernommen hatte, ein Messer zwischen die Rippen gerammt hatte.
Mit einem Mal fiel ihm das Atmen schwer, und Razvan hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Sein Hals fühlte sich rau an, und er musste schlucken. Er schloss die Augen und versuchte, die Schuldgefühle und die Grausamkeit seiner Taten auszublenden. Es war unerheblich, dass er nicht Herr seiner Selbst gewesen war - schon dieser Umstand wog schwer auf seiner Seele - oder dass er nicht stark genug gewesen war, um Xavier zu stoppen. Dass er seinen Peiniger die ganze Zeit mit allen Kräften bekämpft hatte, war nicht genug gewesen. Und nun brachte diese fremde Frau jedes entsetzliche, ekelerregende Detail wieder zum Vorschein und brandmarkte damit seine Seele unwiederbringlich.
»Razvan.« Ivory sprach mit sanfter, freundlicher Stimme. »Schau mich an.«
Sosehr Razvan es auch wollte, er konnte sich nicht rühren, geschweige denn sie ansehen. Wie auch, wo er nicht einmal sich selbst ertragen konnte? Er verfluchte den Umstand, dass sein Körper unsterblich war. Wie konnte er angesichts der entsetzlichen Verbrechen, die er begangen hatte, je wieder jemand anderem in die Augen blicken? Galle stieg ihm in den Mund, ließ ihn abermals schlucken und hinterließ einen bitteren metallischen Geschmack. Als er sich über das Gesicht fuhr, war seine Handfläche verschmiert von blutigen Tränen.
Obwohl Ivory sich lautlos an ihn herangeschlichen hatte, witterte er sie sofort und schüttelte den Kopf. »Zurück! Wag es nicht, mir näher zu kommen.« Während der Hunger ihn wild werden ließ, trieben die Schuldgefühle ihn an den Rand des Wahnsinns. Nun war es nicht länger Xavier, den er fürchtete, sondern er selbst. Er wusste, wozu die liebenswürdigsten Vertreter seiner Artgenossen im ausgehungerten Zustand
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