Jaegerin der Daemmerung
Schwesterherz. Du gehörst doch zu uns. Wir kämpfen gegen den Prinzen - für dich. Wären da nicht die Feigheit seines Vaters und die Krankheit in seiner Familie, wäre dir nichts von alledem zugestoßen, was du erleiden musstest. Gegen den Willen deiner Brüder hat er dich fortgeschickt, in dem Wissen, dass du in Gefahr schweben würdest. Könntest du wirklich für seinen Sohn kämpfen, dich auf die Seite des Bruders des Mannes schlagen, der einen Krieg angezettelt hat?«
Täuschte Ivory sich, oder kam Sergij mit jedem Wort näher? Sie war sich nicht sicher. Sein Körper schwankte, während er sprach, und aufgrund des umherwirbelnden Schnees konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, ob er es als Ablenkung benutzte, um sich unbemerkt vorwärtszuschieben. Vielleicht war es aber auch ihr Bewusstsein, das ihr einen Streich spielte. Wenn er sprach, tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, die sie, um nicht den Verstand zu verlieren, in die hintersten Winkel ihres Selbst zurückgedrängt hatte. Sie schaffte es, von ihm abzurücken und sich an den Moment zu erinnern, in dem alles verloren schien, als Draven sie mit einem feixenden Grinsen den Vampiren ausgeliefert hatte. Er hatte die Hände um ihr Gesicht gelegt und sie geküsst. Welch eine Genugtuung war es gewesen, ihn so kräftig wie möglich zu beißen, wobei sie ihm beinahe die Lippe abgerissen hätte. Als Antwort hatte er ihr so fest in den Magen geboxt, dass sie kaum noch klar hatte sehen können, genau wie jetzt in diesem Moment.
Schwester! , rief Raja mit eindringlicher Stimme.
Schwester! Schwester! Der Rest des Rudels nahm den Ruf auf.
Ayame hob das Gesicht zum Himmel empor und heulte so laut auf, dass das Geräusch wie eine Nadel in Ivorys Verstand eindrang. Sie blinzelte. Die Blutflecke im Schnee waren verschwunden, oder sie konnte sie nicht mehr sehen, weil der Untote bis auf wenige Meter an sie herangekommen war. Sie spürte die Armbrust, die immer noch auf ihren Bruder gerichtet war, in ihrer zitternden Hand. Erst ein, zwei Mal war sie gegen einen Meistervampir angetreten und konnte von Glück sprechen, dass sie mit dem Leben davongekommen war.
»Zurück!«, befahl sie ihm mit schneidender Stimme. »Überleg dir genau, was du als Nächstes tust.«
»Meine Geduld ist am Ende«, entgegnete Sergij und schnippte mit den Fingern. »Dieses Kind ist nur der Anfang. Schon bald werden wir auch die anderen auf unsere Seite gezogen haben. Ist die Hoffnung erst verloren, werden wir keine Probleme haben, das karpatianische Volk auszulöschen. Komm, im Grunde deines Herzens gehörst du doch zu uns. Komm zu deinem geliebten Bruder und nähre dich. Ich biete dir alles an.«
Ivory entging nicht, wie viel Kraft es Sergij kostete, mit halbwegs freundlicher Stimme zu sprechen. Ein weiteres Indiz dafür, wie weit er sich von ihr entfernt hatte und zum Bösen abgedriftet war. Die langen Jahre als Vampir hatten die Erinnerungen an bessere Tage beinahe ausgelöscht. Die allmählich zunehmende Fäulnis hatte sich durch die Erinnerung an Liebe und Familiensinn gefressen und sie vernichtet. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Die Hoffnung, ihn so lange hinzuhalten, bis andere Karpatianer die dunkle Macht so nah an den Grenzen ihres Reiches spürten, hatte sich nicht erfüllt. Wenn der Junge tatsächlich Teil der karpatianischen Welt war, wo waren dann seine Hüter?
»Mein Herz und mein Körper sind bereits vor langer Zeit gestorben, Sergij. Wie fürsorglich von dir, mir jetzt den Tod meiner Seele anzubieten. Ich ziehe es jedoch vor, den Grundsätzen treu zu bleiben, die mich meine Brüder einst lehrten. Damals, als sie noch so etwas wie Ehrgefühl besaßen.«
»Es war ein Fehler, dass wir uns dem Prinzen angeschlossen hatten. Er war es nicht wert, gestattete er doch seinem Sohn, alles zu zerstören, was uns je etwas bedeutet hat.« Sergij streckte abermals die Hand nach ihr aus, als wollte er sie zu sich locken. »Maxim lebt im Reich der Schatten. Genau wie Kirja. Beide wurden von hinterhältigen karpatianischen Jägern erschlagen, die ihr eigenes Volk verraten haben. Ruslan und Vladimir würden ihre geliebte sisar, ihre Schwester, gerne mal wieder zu Gesicht bekommen.«
Ivorys Herz zog sich zusammen. Der Sog der Vergangenheit war nicht zu unterschätzen. Es kostete sie Unmengen von Kraft, sich gegen die Erinnerungen und die damit verbundenen Verlockungen zu stemmen. Mit einem arglosen Blick sah sie zu ihrem geliebten Bruder auf und betätigte den Abzug der Armbrust. Im
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