Jaegerin der Daemmerung
den sie ein und aus gehen konnte.
Razvan konnte Ivorys Warnung spüren. Sofort beruhigte er sie. Sei unbesorgt, ich werde tunlichst darauf achten, keine Spur zu deinem Versteck zu hinterlassen.
Jetzt, da er wusste, wo sich der Zugang zu Ivorys Höhle befand, musste er noch mehr darauf achten, die Information nicht aus Versehen an Xavier weiterzugeben. Ehe Razvan sich in Dunst auflöste, hielt er einen Augenblick inne, um seine mentalen Barrieren zu verstärken und sich selbst stärker zu machen, als er je gewesen war. So schnell es der Spalt zuließ, schlängelte Razvan sich durch den unauffälligen Riss und strömte durch die verschiedenen Gesteinsschichten an die Oberfläche. Eine gefühlte Ewigkeit später
erblickte er endlich einen dünnen Streifen silbrigen Lichts.
* * *
Ich komme. Gleich bin ich da, Ivory. Gib die Hoffnung nicht auf.
Jahrhundertelang hatte Ivory sich auf niemanden außer sich selbst verlassen. Sie war Ivory Malinov, Jägerin des Bösen, die an niemanden außer sich selbst glaubte und niemandem vertraute. Nur so hatte sie bislang erfolgreich verhindern können, dass jemand ihr das Herz herausriss - sowohl im übertragenen als auch im eigentlichen Sinne. Als Ivory tief Luft holte, wurde der Schmerz so stark, dass ihr einen Augenblick lang schwarz vor Augen wurde und sie ins Taumeln geriet. Ehe sie wusste, was geschah, war der Dunkle bei ihr.
Im Nu hatte Ivory den Dolch gezückt und ging in Angriffsstellung. Sie hatte einen entscheidenden Vorteil auf ihrer Seite. Ihr Gegenüber wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte, ahnte nicht, dass in ihren Wölfen karpatianisches Blut floss und sie dadurch umso tödlicher waren. Sie ahnte, dass er versuchen würde, den Tieren seinen Willen aufzuzwingen - eine übliche Vorgehensweise -, doch das war zum Scheitern verurteilt. Es lag einzig an ihrem stark geschwächten Zustand, dass sie wartete, bis der Gegner den ersten Schritt machte. Normalerweise wäre sie längst zur Attacke übergegangen, aber ein Teil von ihr wollte einen Kampf mit den Karpatianern vermeiden.
Mikhail hob eine Hand. »Gregori. Dazu gibt es keinen Grund.« Wenngleich der Prinz mit sanfter und leiser Stimme sprach, schwang in seinen Worten unmissverständlich eine Drohung mit.
Ivory kannte diesen Tonfall nur zu gut. Von ihrem Vater. Die Stimme der Vernunft. Ein liebenswürdiger, selbstloser und gütiger Mann mit freundlichen Augen, die unendliche Weisheit ausgestrahlt hatten. Er hatte ihr helfen wollen, hatte stets das Beste für seine Kinder gewollt. Nur zu gut konnte sie sich an seine sanfte Stimme erinnern und auch daran, wie seine Augen sie angesehen, ihr bis auf den Grund der Seele geblickt und ihren schier unstillbaren Wissensdurst erkannt hatten. Die Lust am Lernen, die ihre Brüder nicht mit ihr teilten - weil sie nicht konnten oder wollten. Diese Stimme besänftigte sie, versprach ihr, dass alles gut werden würde und dass er, sobald ihre Brüder zurückgekehrt waren, ihnen erklären würde, warum es für sie notwendig war, dass sie zur Schule ging und lernte.
Damals hatte der Prinz sie verstanden. Kein Wunder angesichts des immensen Wissens, über das er verfügte. Sein Handeln war einzig darauf ausgerichtet gewesen, seinem Volk zu dienen. Er wusste, dass sie lieber aktiv werden wollte, statt zuhause herumzusitzen und auf ihren Seelengefährten zu warten. Sie wollte jemand sein, etwas machen. Der Prinz wusste um all das und half ihr, so wie sie es von ihm erwartet hatte.
Ivory hatte das Gefühl, als zöge sich ihr Magen zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß sie alles, was in ihrem Körper vor sich ging - die gebrochenen Rippen, den sengenden Schmerz, der in ihrer Schulter tobte, das Brennen des ätzenden Blutes oder das jähe Stechen der Parasiten, die sich in ihre Zellen zu bohren versuchten. In ihrer Naivität war ihr damals nie in den Sinn gekommen, dass der Prinz einen gänzlich anderen Plan verfolgte - dass er sie loswerden, sie wegschicken wollte, in dem Wissen, dass sein gestörter Sohn sie niemals in Ruhe lassen würde und dass ihre Brüder oder die De La Cruz sonst Draven umbringen würden. Stattdessen war sie frohen Mutes weggegangen und hatte dem Prinzen mit all seiner Weisheit geglaubt. Wie erwachsen sie sich gefühlt hatte. Inzwischen wusste sie, dass sie damals vor allem leichtgläubig gewesen war.
Du musst dich beeilen. Lange halte ich es nicht mehr aus.
Ivory wusste nicht, ob ihr geschwächter Zustand eher körperlicher oder seelischer
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