Jaegerin der Daemmerung
ihre Stimme wieder zu hören.
Von weit weg vernahm er eine Melodie mit Worten in der alten Sprache, gesungen von Männer- und Frauenstimmen. Es war nicht möglich, unter ihnen eine einzelne Stimme auszumachen. Und obwohl er ihre Stimme nicht heraushören konnte, war er sich sicher, dass sie bei ihm war, nicht neben ihm, sondern in seinem Körper, obwohl ihm die Vorstellung nicht sonderlich behagte. Was, wenn sie die überwältigenden Schmerzen, die in seinem Körper wüteten, ebenfalls spürte?
Razvan merkte, wie seine Gedanken abdrifteten. So als wollte er gar nicht wissen, ob sie bei ihm war, weil er ohnehin nichts dagegen tun konnte, dass sie seine Qual spürte. Zu viele Jahre hatte er damit verbracht, denen, die ihm ans Herz gewachsen waren, Kummer zu bereiten. Er wollte sich nicht vorstellen, dass er dasselbe nun auch mit ihr gemacht hatte.
Nein, geliebter Razvan. Ich bin bei dir, weil ich es so wollte. Ich habe darum gebeten, an dich gebunden zu werden. Ich teile deinen Körper aus freien Stücken. Hör mir zu, Drachensucher, du musst dich an mir festhalten. Lass mich niemals los.
Wäre Razvan dazu imstande gewesen zu lächeln, er hätte es getan. Wohin mochte seine Reise gehen? Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Er musste ruhig liegen bleiben und der Dinge harren, die da kamen. Der einzige Trost, den er hatte, war ihre Stimme. Er versuchte, sich daran zu erinnern, ob er sie schon früher, als er noch jung gewesen war, in seinen Träumen gehört hatte.
Nach geraumer Zeit - es konnten Nächte, Wochen oder sogar Monate ins Land gegangen sein - registrierte er das Schlagen eines Herzens. Das Geräusch war ungewöhnlich, tief, wurde von seiner Umgebung zurückgeworfen und schien durch seinen Körper, durch jeden Muskel, jedes Organ, jede zerrissene Sehne und jeden gebrochenen Knochen hindurchzupulsieren. Jeder Schlag erschütterte und beruhigte ihn zugleich. Jeder Schlag brachte einen heftigen Schmerz mit sich, war aber zugleich seltsam tröstlich.
Noch später, ohne dass er wusste, wie viel Zeit vergangen war, merkte er, wie er nach dem Geräusch suchte und auf das Echo horchte, das durch seinen geschundenen Körper lief. In seiner dunklen Welt verspürte er leise Neugierde. Was bist du?
Ich bin Mutter Natur, mein Sohn. Du bist ein Teil von mir. Meine Tochter hat mich angefleht, mich deiner anzunehmen, dich zu heilen. Was du hörst, ist der Herzschlag der Erde, der durch deinen Körper tönt, der dich zu einem Teil von mir macht, eins mit der gesamten Natur.
Jetzt hatte Razvan keinen Zweifel mehr. Er war verrückt geworden. Er unterhielt sich mit Mutter Erde! Seltsam war nur, dass es ihm gar nichts ausmachte, seinen Verstand verloren zu haben. Die Schmerzen waren noch immer so stark wie zuvor, aber er hatte sich inzwischen daran gewöhnt und empfand die warme Dunkelheit als einen friedlichen, gemütlichen Ort. Wieder gestattete er dem Meer aus Schmerzen, auf dem er schwamm, ihn weiter nach draußen zu ziehen.
Wie von selbst kehrten seine Gedanken zu seiner Seelenpartnerin zurück. Ivory. Seine wahre Gefährtin. Eine atemberaubend schöne Frau. Das Wissen darum, wie anders ihrer beider Leben verlaufen wären, wenn sie sich schon vor Jahrhunderten begegnet wären, stimmte ihn traurig. Er hatte nie gewagt, von ihr zu träumen, wollte nie, dass Xavier davon erfuhr, dass es eine Frau gab, die die andere Hälfte seiner selbst war. Dieses zarte Band zwischen zwei Seelen war ein Geschenk, das niemals mit Xaviers Boshaftigkeit in Berührung kommen durfte.
Wäre er nicht gestorben und tief in der Erde begraben worden, hätte er sie mit in seinen verborgenen Garten genommen, den einzigen Ort aus seiner Kindheit, an den er sich erinnern konnte, in dem das Leben gut und voller Freude war. Ein Ort, an dem er oft mit seiner geliebten Schwester Natalya gespielt hatte. Ein Ort, an dem sie viel gelacht hatten, an dem sie barfuß durch die blühenden Wiesen gelaufen waren oder Steine in das stille Wasser des Sees geworfen hatten. Er würde Ivory dorthin bringen, um diese schöne Erinnerung mit ihr zu teilen.
Mit einem Mal war ihm, als hätte ihn etwas an der Hand gestreift, als spürte er warmen Atem auf seinem Gesicht. Nimm mich mit, Geliebter. Zeig mir den Ort, von dem du träumst.
Razvan hatte nicht erwartet, dass sein Verlangen nach dieser Frau so groß war, dass er sie sogar heraufbeschwören konnte. Er stellte sich vor, wie er mit der Hand über die Konturen ihres Gesichtes fuhr und mit dem Daumen über
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