Jägerin der Nacht 01 - Nightwalker
Zimmer. Als er sah, dass ich noch kein Oberteil anhatte, wurde er knallrot und wendete rasch seinen Blick ab. Ich öffnete den Kleiderschrank. „Ich wollte gerade kommen", sagte ich und schaute die Sachen durch, bis ich auf eine einfache schwarze Bluse stieß. „Hättest du vielleicht kurz Zeit? Ryan würde dich gerne sehen, bevor ihr geht", sagte James zögernd. Er befürchtete offenbar, dass ich die Einladung ausschlug.
Froh, dass Melanie ungefähr die gleiche Größe hatte wie ich, zog ich die Bluse über und knöpfte sie zu. „Nur mich?", fragte ich überrascht. „Sadira nicht?" Sadira war die Älteste von uns und stand dadurch automatisch über mir und Tristan. „Er hat nur nach dir gefragt." „Ich denke, einen kleinen Moment kann ich erübrigen", entgegnete ich achselzuckend und schloss die letzten beiden Knöpfe. Endlich lernte ich den großen Boss kennen. Ich wusste nicht, wie viel neue Informationen er mir geben konnte, aber bisher war Themis äußerst hilfreich gewesen. Viel hilfreicher als Jabari und Sadira jedenfalls, die sich größte Mühe gaben, mich im Unklaren zu lassen, während mir jemand nach dem Leben trachtete. Und bei diesem Jemand handelte es sich allem Anschein nach nicht um einen Jäger.
24
Ryan war ein Magier. Ich hatte es bereits vor meinem Eintreffen in der Themis-Zentrale vermutet, doch als ich sein Büro im zweiten Stock betrat, war es offensichtlich. Er lehnte mit übereinandergeschlagenen Beinen an seinem großen Schreibtisch aus Walnussholz. Er hatte mich bereits erwartet. Natürlich. Er nahm garantiert jede Bewegung wahr, die ich in diesem Haus machte.
Er war ein gut aussehender Mann, etwas über eins achtzig groß und sehr schlank, wirkte dabei jedoch nicht schlaksig, sondern elegant. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug zu einem schwarzen Hemd. Im Gegensatz zu seinen Brüdern trug er jedoch keine Krawatte, und die oberen zwei Knöpfe seines Hemds waren offen. Seine gebräunte Haut und der dunkle Anzug standen in starkem Kontrast zu seinem langen weißen Haar. Es reichte ihm bis über die Schultern, und er hatte es in Reminiszenz an längst vergangene Zeiten mit einem schmalen schwarzen Band zu einem Zopf zusammengebunden.
Die Zeit hatte in seinem Gesicht kaum Spuren hinterlassen. Er hatte keine Falten und wirkte auf den ersten Blick nicht älter als Anfang bis Mitte dreißig. Aber seine goldenen Augen hatten eine Tiefe, die auf ein langes Leben hindeutete. Er war alt, älter als ein Mensch werden konnte. Die Magie hatte deutliche Auswirkungen auf das äußere Erscheinungsbild eines Menschen. Und je versierter ein Magier oder eine Hexe im Umgang mit der Magie wurde, desto nachhaltiger waren die Auswirkungen. Ryans Macht hatte sich in seine Gesichtszüge eingegraben und erfüllte jede Faser seines Körpers. Sie knisterte in der Luft wie Elektrizität und brachte meine Haut zum Kribbeln.
Die meisten Menschen, die Magie anwendeten, taten es unwissentlich. Wenn etwas Positives geschah, hielten sie es einfach für eine Glückssträhne. Nur diejenigen, die die Magie wirklich studierten und grundlegende Kenntnisse erwarben, wurden Hexen und Magier genannt. Und dann gab es noch Leute wie Ryan, die sich das Studium der Magie zur Lebensaufgabe machten, und sie waren einfach nur als gefährlich zu bezeichnen.
Nachdem James wortlos die Tür geschlossen und uns allein gelassen hatte, erhob sich Ryan, ohne sich vom Schreibtisch abzustoßen. Er bewegte sich genauso geschmeidig wie ein Vampir. Ich hatte zwar schon einige Magier kennengelernt, aber noch nie einen Menschen mit dieser Fähigkeit, die ich bisher immer ausschließlich Vampiren zugeschrieben hatte.
„Beeindruckend", sagte ich und applaudierte. „Ein Kaninchen aus dem Hut ziehen ist dir wohl zu banal." Er schenkte mir ein warmes, freundliches Lächeln, das völlig offen und arglos wirkte und damit sogar fast noch beeindruckender als sein erster Trick. Wie konnte jemand mit so viel Macht derart einnehmend wirken? Genau so, wie es den Naturi gelang, Harmlosigkeit auszustrahlen: nach langen Jahrhunderten der Übung.
„Ich heiße Ryan", sagte er und reichte mir die Hand. Ich betrachtete sie einen Moment und bewunderte seine langen Finger, rührte sie aber nicht an. Es war eine starke Hand, eine, die gleichermaßen trösten wie strafen konnte. Ich ging an ihm vorbei und sah mir die Bücher in den Wandregalen an, doch meine Aufmerksamkeit war ganz auf ihn gerichtet. Ich hielt es für besser, vorerst eine gewisse Distanz zu
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