Jägerin der Nacht 01 - Nightwalker
verblüfft an. Die Bitte kam mir zwar äußerst merkwürdig vor, aber einen Trick vermutete ich eigentlich nicht dahinter. Wenn eine Hexe oder ein Magier loslegt, spürt man, wie sich die Macht im Raum ausbreitet. Ryan war natürlich mächtiger als alles, was mir bisher begegnet war, und es lag bereits so viel Energie in der Luft, dass ich spezielle Ströme möglicherweise gar nicht wahrnahm, aber ich nickte trotzdem.
Er bemerkte meinen Argwohn und streckte seine Hand ganz langsam aus, bis seine Finger mein Gesicht berührten. Dann ließ er sie behutsam über meine Wange gleiten. Seine Haut war warm, und ich spürte nur einen leichten Energiestoß, sonst nichts. Seine Stimme hielt mich allerdings einen Augenblick lang gefangen. „Verzeih mir", murmelte er. „Du bist nicht so kalt, wie ich gedacht habe."
„Ich kann kaum glauben, dass du noch nie einen Nachtwandler angefasst hast", zog ich ihn auf und sah ihm in die Augen. „Nur ein Mal", entgegnete er mit einem bitteren Lächeln. „Und zwar, nachdem er von meinem Blut getrunken hatte." „Ja, so eine Mahlzeit wärmt uns in der Regel auf." „Aber du hast heute Abend noch nicht getrunken?" „Nein." „Und du bist trotzdem nicht ..."
„... so kalt wie eine Leiche?", fragte ich, und seine Miene hellte sich wieder auf. „Unter normalen Umständen kann ich ein bisschen Wärme speichern, selbst wenn ich ein paar Tage kein Blut trinke. Eine heiße Dusche ist allerdings auch sehr hilfreich." „Hat das mit deiner Fähigkeit zu tun?" „Nein, Feuer erwärmt mich nicht. Wenn ich zu oft von meiner Fähigkeit Gebrauch mache, wird mir sogar kalt, weil es viel Energie kostet." „Das wusste ich nicht." „Kein Mensch weiß so etwas." „Warum vertraust du mir?", fragte er und klang dabei einigermaßen überrascht.
Ich brach in Gelächter aus, das den Raum erfüllte und einen Teil seiner Energie verdrängte, was ihn dazu veranlasste, wieder auf Abstand zu gehen und sich an den Schreibtisch zurückzuziehen. „Das tue ich gar nicht." Ich lehnte mich zurück und schwang ein Bein über die Sessellehne. „Nimm es einfach als Geste des guten Willens. Ich werfe dir ein kleines Bröckchen hin ..."
„Weil du etwas willst", beendete er den Satz. „Tun wir das nicht alle?" „Und was willst du?" Ich wurde sofort wieder ernst. „Informationen." „Ein kostbares Gut." „Vielleicht, aber was du dafür bekommst, ist ebenso wertvoll", sagte ich und sah ihn unverwandt an. „Und das wäre?" „Dein Leben." „Ist das eine Drohung?", fragte Ryan amüsiert. „Keineswegs. Nur eine Feststellung. Die Naturi sind eine Gefahr für Menschen und Nachtwandler. Du hast Informationen, die uns helfen können. Wir sind diejenigen, die unser Leben aufs Spiel setzen, um euch zu schützen."
„Überaus nobel von euch!" „Wohl kaum", entgegnete ich mit einem Schnauben. „Du weißt es besser." Ich sah zu ihm auf, und seine Miene wurde wieder ernst. Wir hatten den kurzen Moment der Leichtigkeit genossen, für mehr war keine Zeit. „Was weiß ich denn deiner Meinung nach?" „Keine Ahnung, aber da ich gar nichts weiß, weißt du auf jeden Fall mehr als ich", räumte ich ein. „Ihr habt das erste Opfer in Indien entdeckt, bevor wir überhaupt mitbekommen haben, dass etwas im Schwange ist." „Bist du sicher, dass wir die Ersten waren?" „Nein", hauchte ich kaum hörbar.
Vor dem Desaster in London und Thornes Tod hätte ich entschieden mit Ja geantwortet, aber nun war ich mir in Bezug auf gar nichts mehr sicher. Die Naturi wussten zu viel; sie hatten mich in Ägypten und London viel zu schnell aufgespürt. Irgendjemand hinterging mich, und mir gefiel ganz und gar nicht, wie sich die Dinge entwickelten. Diese Überlegungen wollte ich gegenüber einem Menschen natürlich nicht äußern, und wenn es nach mir ging, dann hatte ich das Herz dieser hinterhältigen Kreatur in der Hand, bevor sich die Naturi an die zweite Opferung machten.
„Aber das ist im Augenblick nicht von Belang", fuhr ich fort und verdrängte meine düsteren Gedanken. „Wie habt ihr die Leiche entdeckt?" „Konark ist von jeher der Ort für magische Aktivitäten", erklärte er, „auch wenn dort lange Zeit nichts mehr passiert ist. In jener Nacht habe ich die Macht ganz plötzlich ansteigen gespürt. Mein Forschungstrupp saß bereits im Flieger, bevor in Indien der Morgen graute."
„Und die Bäume?" „Das war, fürchte ich, reines Glück. Ein Themis-Mitglied hatte gerade in Kanada Urlaub gemacht und beim Wandern eines der
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