Jägerin der Nacht 01 - Nightwalker
Thorne schreiend vor einer Horde desillusionierter Teenager.
Als ich aufsah, stellte ich fest, dass Danaus mich mit unergründlicher Miene beobachtete. Ein Teil von mir wünschte, ich könnte seine Gedanken lesen. Je länger er an meiner Seite war, desto mehr erfuhr er von meiner Welt, und ich hätte das alles gern einmal mit den Augen eines Außenstehenden gesehen. Im Laufe meines langen Lebens war ich bereits in Bezug auf vieles abgestumpft. Vor meiner Verwandlung hatte ich Sadiras Stärke und Macht bewundert. Ich hatte gewaltigen Respekt vor ihr gehabt und darüber gestaunt, wie viele Nachtwandler zu ihr kamen und sich vor ihr verneigten. Noch bevor ich wiedergeboren wurde, hatte ich mich bereits an Tod und Folter gewöhnt. Ich war ein Geschenk für diejenigen gewesen, die ihr gefielen, und ein Folterinstrument für diejenigen, die sie enttäuscht hatten.
Während meine Gedanken noch um meine Schöpferin kreisten, sah ich zu Tristan, dessen Interesse mir immer unangenehmer wurde. Er war jünger als Thorne; nach dem sanften Pulsieren der Macht zu urteilen, die er ausstrahlte, schätzungsweise um die hundert Jahre.
„Und was für eine Rolle spielst du in dem Ganzen?", fragte ich ihn. „Gar keine", entgegnete er achselzuckend. „Warum bist du hier?" „Um mich zu amüsieren. Thorne hat gesagt, es ist ganz interessant hier." Danaus schnaubte und richtete den Blick in den Saal. „Interessant" war eine absolute Untertreibung. Die kreischenden Menschen verschmolzen zu einer einzigen wogenden Masse, und die vielfältigen Klamotten und Farben übertrafen alles, was ich jemals in der Natur gesehen hatte.
„Warum will Sadira, dass ich dich zu ihr bringe?", fragte ich. Tristan zuckte unwillkürlich zusammen, und das Entsetzen stand ihm im Gesicht geschrieben. „Du hast mit ihr gesprochen?" „Ich habe sie vor einer Stunde gesehen. Ich bin wegen Thorne gekommen, aber dich nehme ich auch mit." „Nein!", hauchte er. Das Funkeln, das in seine Augen getreten war, als er mich erkannt hatte, war wieder verschwunden, und aus seiner Stimme sprachen Wut und Angst. „Nein! Das kannst du nicht machen! Ich gehe nicht zu ihr zurück. Mira, bitte!" Er beugte sich zu mir vor und sah mir fest in die Augen. „Du weißt doch, wie es ist. Du erinnerst dich bestimmt noch daran. Ich kann nicht zu ihr zurück!"
Ich ließ mich gegen die Lehne sinken und schloss die Augen, als es mir endlich dämmerte. „Sie hat dich gemacht", sagte ich leise. Sadira hatte Tristan erschaffen, und er war ihr weggelaufen, nachdem er ein Jahrhundert lang ihr Schützling gewesen war. „Ich wusste praktisch von Anfang an von dir", erklärte Tristan, ergriff meine Hand und zwang mich, die Augen zu öffnen und ihn anzusehen. „Du warst diejenige, die davongekommen ist. Du bist unserer Schöpferin entronnen und lebst dein eigenes Leben. Genau das will ich auch!"
Ich biss die Zähne zusammen und unterdrückte das Knurren, das mir zu entfahren drohte. Dieses Miststück! Dieses manipulative, bösartige Miststück! Ihr mit einem Feuerball den Garaus zu machen wäre ein viel zu angenehmer Tod für sie. Ich wollte einen Baseballschläger. Einen Baseballschläger und eine lange, endlose Nacht. Mit einem Streich gelang ihr gleich ein doppelter Coup gegen Tristan und mich. Ich hatte keine andere Wahl, als ihr den abtrünnigen Vampir zurückzubringen. Sadira würde keine Ausrede gelten lassen, wenn ich es nicht tat. Sie würde einfach verschwinden und sich mir entziehen, und dann lag mein Kopf wieder auf Jabaris Hackklotz, und alle Leute in meinem Revier waren in Gefahr. Und wenn ich ihr Tristan zurückbrachte, machte ich seine Hoffnung zunichte, ihr jemals entrinnen zu können, und zeigte obendrein, dass ich trotz meines vermeintlichen Davonkommens immer noch eine Dienerin meiner Schöpferin war.
„Ich bin Sadira nicht abgehauen. Ich war bei Jabari", sagte ich. Jabari hatte sich einfach genommen, was er wollte. „Also bist du sogar einem Ältesten entronnen?" „Nein, so war das nicht." Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und überlegte fieberhaft, wie ich es erklären sollte. Danaus beobachtete mich mit vor der Brust verschränkten Armen und grinste. Ich war mir nicht sicher, ob er hundertprozentig verstand, wovon wir redeten, doch er merkte, dass ich mir selbst eine Grube grub.
„Aber um mich geht es jetzt gar nicht", sagte ich zu Tristan, der mich voller Verzweiflung ansah. „Ich kann dir nicht helfen. Die Naturi machen uns gerade ziemliche
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