Jägerin der Nacht: Firestarter (German Edition)
sich selbst und andere Nachtwandler aufpassen. Lily nicht.«
»Und was schlägst du vor?«, fragte Mira und verschränkte abwehrend die Arme, wie um sich vor meinen scharfen Worten zu schützen. »Sollen wir sie etwa noch mal in eine sogenannte ›normale Familie‹ stecken? Wie gut das funktioniert, hat man ja schon gesehen. Sie fühlt sich wie eine Ausgestoßene, während sie eigentlich etwas ganz Besonderes ist. Uns ist das klar. Wir verstehen sie. Aber wenn sie wieder in eine Durchschnittsfamilie kommt, wird sie sich entweder wie der letzte Freak fühlen, wenn ihre Gabe ans Tageslicht kommt, oder, noch schlimmer, sie verkriecht sich völlig und entwickelt ihre Talente nie.«
»Du hast recht, zu einer normalen Familie können wir sie wirklich nicht schicken«, stimmte ich zu. Mira war so verblüfft, dass sie verstummte. »Sie muss zu Menschen kommen, die ihre Gabe zu schätzen wissen und ihr helfen, sie zu entwickeln.«
»Und an wen denkst du da?«, fragte Mira zögernd. Ihre Anspannung schien sich ein bisschen zu legen.
»An Themis.«
»Bist du vollkommen übergeschnappt?«, schrie Mira und geriet nun vollends außer sich. »Du willst sie mir wegnehmen, damit Ryan sie in seine Klauen bekommt? Nein, keiner von euch beiden hat auch nur den Funken einer Ahnung von Kindern. Wenn ihr zwei mit ihr fertig seid, ist sie nur noch ein Wrack.«
»Findest du, dass James ein Wrack ist?«, entgegnete ich.
»Wie meinst du das?«, fragte Mira verwirrt.
»Lily wäre nicht das erste Kind bei Themis. Es kommt zwar nicht oft vor, aber es gibt Beispiele. James’ Eltern wurden getötet, als er acht Jahre alt war. Sie waren Werwölfe. Eines Nachts hat sie ein Farmer erwischt, der glaubte, sie wären hinter seinen Schafen her. Es war nicht klar, ob James das Gestaltwechsler-Gen hatte oder nicht, und da hat Themis ihm angeboten, ihn aufzunehmen und großzuziehen, falls er sich doch zu einem Werwolf entwickeln sollte.«
»Warum hat ihn denn sein Rudel nicht aufgenommen?«, fragte Mira.
Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte die Schultern. »James’ Eltern hatten kein Rudel. In England gibt es nur sehr wenige Rudel, und kein einziges in der Gegend, wo James aufgewachsen ist.«
»Und weil ich ungeeignet bin, um Lily großzuziehen, willst du sie mit zu Themis nehmen, um sie bei den Forschern aufwachsen zu lassen.«
»Ich werde nicht zu Themis zurückkehren.«
Insgeheim hatte ich schon eine ganze Weile gewusst, dass ich nicht zurückgehen würde, aber dass ich es jetzt laut aussprach, schien diesem Entschluss neues Gewicht zu verleihen, sodass es nun kein Zurück mehr gab. Äußerlich blieb ich ruhig wie immer, aber innerlich fuhren meine Gefühle Achterbahn. Ich konnte nirgendwo mehr hin und hatte nach all den Jahrhunderten bei Themis nun keine Heimat mehr. Alle meine Freunde waren längst tot. Ich war wirklich und wahrhaftig allein in einer Welt von Feinden.
Tristan kehrte langsam auf seinen Sessel zurück, während Mira den Mund zu einem großen runden O geöffnet hatte. Erst nach einer Weile fand sie ihre Stimme wieder.
»Was soll das heißen, du gehst nicht zurück?«, fragte sie so leise, dass ich sie am anderen Ende des Raums kaum verstand.
»Mein Abschied ist längst überfällig«, verkündete ich. »Das war mir schon lange klar, aber es hat sich nie die Gelegenheit ergeben. Doch jetzt, nach dem, was letzte Nacht mit Ryan war, kann ich nicht wieder zurück. Seine Methoden sind mir zuwider, und seine Pläne machen mir Angst.«
»Trotzdem willst du ihm Lily geradewegs in die Arme treiben?«, fragte Mira ungläubig.
Mir war klar, dass das verrückt klang, aber ich wusste genau, dass mein Plan absolut logisch war. »Einen besseren Ort kann ich mir nicht vorstellen. Die Naturi haben Themis immer nur angegriffen, wenn wir da waren. Ryan ist ein mächtiger Zauberer, der bei all unseren Leuten hohen Respekt genießt. Niemand wird ihm in die Quere kommen. Bei Themis ist sie außerdem nicht länger in der Schusslinie des Konvents.«
»Aber dafür lebt sie dann bei Ryan – dem Mann, dem du am allerwenigsten vertraust«, versetzte Mira.
»Ich traue ihm zwar nicht, aber ich kenne ihn sehr gut«, erklärte ich. Ich ging zu Mira und griff nach ihren Händen. »Der Zauberer braucht dich als Verbündete, nicht als Feindin. Wenn er will, dass du weiterhin auf seiner Seite kämpfst, tut er gut daran, Lily kein Haar zu krümmen. Mehr noch, er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um sie zu schützen und sie
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