Jägerin des Herzens
sprechen. Ich werde dir nicht mehr zuhören … Ich kann es einfach nicht!«
»Nun gut«, beruhigte Lily sie. »Heute Abend reden wir nicht mehr davon. Weine nicht. Alles wird gut du wirst schon sehen.«
Alex eilte die große Treppe hinunter. Er trug Reisekleidung – ein Tuchjackett, eine braune Popelineweste und Baumwollhosen. Am Vortag hatte er eine Nachricht durch einen Kurier bekommen und musste deswegen nach London fahren. Sein jüngerer Bruder Henry sollte aus Westfield geworfen werden. Das war das erste Mal, dass ein Raiford je dazu gezwungen gewesen war, die ehrwürdige Schule zu verlassen.
Verärgert und besorgt zugleich fragte Alex sich, was wohl der Anlass für die Relegation gewesen sein mochte.
Henry war schon immer ein lebhafter, mutwilliger Junge gewesen, aber eigentlich war er ein gutmütiger Kerl. In dem kurzen Schreiben des Direktors von Westfield hatte es keine Erklärung gegeben, es hatte nur darin gestanden, dass der Junge an der Schule nicht mehr erwünscht sei.
Alex seufzte schwer und dachte, dass er den Jungen vielleicht nicht streng genug erzogen hatte. Er hatte nie das Herz gehabt Henry für seine Missetaten zu bestrafen. Er war noch so jung gewesen, als seine Eltern gestorben waren. Alex war für Henry mehr ein Vater als ein Bruder, und jetzt fragte er sich, ob er wohl alles richtig gemacht hatte. Schuldbewusst dachte Alex, dass er schon vor Jahren hätte heiraten sollen, damit es in Henrys Leben eine sanfte, mütterliche Frau gegeben hätte.
Alex’ Gedanken wurden unterbrochen durch den Anblick einer kleinen Gestalt im Nachthemd, die die Treppe hinauf eilte. Schon wieder Lily. Er blieb stehen und beobachtete sie.
Plötzlich bemerkte sie ihn und hielt inne. Sie blickte in sein strenges Gesicht stöhnte und griff sich an den Kopf.
»Wir wollen das einfach ignorieren, ja?«
»Nein, Miss Lawson«, erwiderte Alex schneidend. »Ich möchte eine Erklärung, wo Ihr gewesen seid und was Ihr getan habt.«
»Ihr bekommt aber keine«, murmelte sie.
Alex betrachtete sie schweigend. Möglicherweise stimmte es ja, dass sie ein Tête-à-tête mit einem der Dienstboten hatte. Sie sah danach aus – nur mit einem Nachthemd bekleidet barfuß und mit dunklen Ringen unter den Augen, als sei sie von den Ausschweifungen der Nacht erschöpft. Er wusste allerdings nicht, warum ihn das so wütend machte. Für gewöhnlich interessierte es ihn nicht im Geringsten, was andere Leute taten, solange sie ihm keine Unannehmlichkeiten verursachten. Aber jetzt hatte er einen bitteren Geschmack im Mund.
»Beim nächsten Mal«, sagte er kalt »packe ich persönlich Eure Koffer. In London mag man ja Euren Mangel an Moral bewundern – aber hier dulden wir so etwas nicht.«
Lily erwiderte seinen Blick verächtlich und stieg weiter die Treppe hinauf, wobei sie leise Obszönitäten murmelte.
»Was sagtet Ihr?«, fragte er grollend.
Sie warf ihm ein zuckersüßes Lächeln zu. »Ich habe Euch nur einen schönen Tag gewünscht Mylord.«
Als sie in ihrem Zimmer war, ließ Lily sich ein Bad vorbereiten. Rasch füllten die Zofen die Wanne im angrenzenden Ankleidezimmer. Eines der Mädchen entfachte ein Feuer im Kamin und legte die Handtücher auf ein Wärmegestell. Danach lehnte Lily jede weitere Hilfe ab.
Sie legte sich in die Wanne. Die Tapeten an den Wänden zeigten eine Landschaft in chinesischem Stil, mit handgemalten Blumen und Vögeln. Die Porzellanumrandung des Kamins war mit Drachen und Pagoden dekoriert.
Unmodern. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass die Tapete mindestens zwanzig Jahre alt war. Wenn ich hier etwas zu sagen hätte, würde es hier einige Veränderungen geben, dachte sie und tauchte in dem dampfenden Wasser unter. Als sie mit tropfnassem Haar wieder hochkam, gestattete sie sich endlich, über das, was mit ihr geschah, nachzudenken.
Diese Schlafwandlerei kam immer häufiger vor. Gestern war sie in der Bibliothek aufgewacht, heute früh im Salon auf dem Sofa. Wie war sie nur dahin gekommen? Wie war sie heil die Treppe hinunter gekommen? Sie hätte sich den Hals brechen können!
So konnte es nicht weitergehen. Verängstigt überlegte Lily, ob sie sich wohl besser Nacht für Nacht am Bett festbinden sollte. Aber was würde das für einen Eindruck machen, wenn man sie entdeckte? Nun, Wolverton wäre sicher nicht überrascht dachte sie und kicherte nervös. Er hielt sie vermutlich für die verrückteste Frau unter der Sonne.
Vielleicht sollte sie versuchen, vor dem Schlafengehen etwas zu
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