Jagd in die Leere
Zeitwahrnehmung in dem Sinne, wie du sie dir vorstellst. Es gibt hier auch keine Zeit; in fünfzig Jahren wirst du genau so alt oder jung sein wie jetzt. Falls wir so lange brauchen werden, um dir zu helfen und dich auf deinen Weg zu schicken. Das Schlüsselwort zu unserer Beziehung heißt Geduld, und du wirst herausfinden, daß alles viel besser geht, wenn du geduldig bleibst, innerlich jegliche Hoffnung auf eine Zukunft aufgibst und dein Leben hier so nimmst, wie es ist. Ich weiß, daß diese Denkweise in deinem Vokabular Existentialismus heißt. So primitiv diese Vorstellung auch ist – ihr Menschen erfaßt noch nicht einmal den Begriff Resignation – ich denke, daß sie hier am nützlichsten ist.«
Normalerweise war er nicht so barsch. Eigentlich war er nach dieser einen langen Erklärung auch nie wieder so offen: Gewöhnlich kreisten ihre Unterhaltungen um triviale Aspekte von Dellas Kindheit oder um ihre Ansichten über abstrakte Dinge oder ihre Reaktion auf die Situation. Der Fragensteller war sehr sympathisch. Er stellte nur Fragen, um ihr weiterzuhelfen: Della sprach dann ausführlich über alles, was ihr einfiel.
Zu einem frühen Zeitpunkt in ihrer Beziehung fragte sie ihn einmal, ob der springende Punkt der war, daß sie sich alles von der Seele redete. Er bejahte. Er würde nichts unternehmen, um sie zu leiten oder zu führen, weil alles, was sie sagte, interessant war, einen Teil ihrer Entwicklung darstellte und demzufolge notwendig war. Er suchte nach nichts Besonderem; sie würde das erforderliche Stadium auf ihre Art und wann sie wollte, ohne Zwang durch ihn, erreichen. Seine Hauptpflicht war es, in ihrer Nähe zu sein, um zu prüfen, wann sie diesen Punkt erreicht hatte; sie konnte schließlich nicht alleine so weit kommen.
»Trotzdem«, fügte er hinzu, »ist es nützlich, nicht zu vergessen, daß dies eine Befragung ist und ich der Fragensteller bin; es hat keinen Sinn, diese einfache Tatsache zu verschleiern. Ich möchte nicht, daß du durch ein Außerachtlassen dieser fundamentalen Einsicht vom rechten Weg abkommst.«
Es war zu jener Zeit, als die Sache mit der Schwangerschaft ihr wieder so stark in den Sinn kam. Sie hatte Jahre nicht mehr daran gedacht. Trotzdem, jetzt fiel ihr die Sache wieder ein. Nichts, nichts, nichts, hatte der Arzt gesagt, dort unten ist überhaupt nichts, nichts. Hier war es jetzt dasselbe, nur, daß das Nichts draußen war und die Luft – eher mehr noch als das Ding in ihrem Inneren – einer Schwangerschaft glich. Das war genau das, was sie fühlte, als ob außerhalb von ihr nichts existierte und nichts, dessen sie fähig sein könn te. Das gab den ins Gedächtnis zurückgerufenen Worten des Arztes eine düstere Prophezeiung, die vorherzusagen schien, daß dies alles mit ihr einst geschehen sollte.
»Das, was mit dir geschehen sollte?« fragte der Wächter.
»Daß ich weggeschleppt und in eine Situation versetzt werden würde, die nicht tolerierbar ist und die ich nicht verstehen kann. Ich kann überhaupt nichts begreifen. Ich könnte übrigens die einzige Person auf der ganzen Welt sein. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum das so ist und was dies alles zu bedeuten hat. Ich habe nicht einmal das Gefühl der Würde empfunden bei dem Gedanken, daß ich der letzte Mensch bin, weil alles so total bedeutungslos ist. Ich nahm an, daß nichts in mir ist, statt dessen ist nichts draußen. Es ist ein Wunder, daß ich überhaupt noch geistig normal bin.«
»Warum? Warum ist geistige Normalität ein Wunder?«
»Weil ich immer ein sehr einfacher Mensch gewesen bin. Einfache Gedanken, einfache Bedürfnisse, einfache Hoffnungen«, erwiderte sie. »Den Großteil meiner Stärke zog ich aus dem Zusammensein mit anderen in Situationen, bei denen ich fühlte, daß ich sie kontrollierte. Jetzt ist mir das alles genommen, und ich bin nicht verrückt geworden. Vielleicht kommt das daher, weil in meinem Inneren außer einer Leere nichts ist, was mich verrückt machen könnte. Vielleicht hängt es damit zusammen.«
»Die Sache mit dem Kind ist äußerst interessant. Wolltest du ein Kind? Warst du bestürzt, als der Arzt dir sagte, es wäre nichts in dir? Hast du es irgendwie als eine persönliche Beleidigung aufgefaßt?«
»Nein, nein – überhaupt nicht«, sagte sie. »Wir konnten keine Kinder bekommen, weil James steril war. Wir fanden das, nachdem wir drei Jahre verheiratet waren, heraus. Er nannte mich frigide und war der Meinung, ich würde im Bett nicht auf ihn
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