Jagd in die Leere
unneugieriges Volk. Wir müssen dich kennenlernen.«
»Ich will die Bücher nicht lesen«, sagte sie. »Sie sind saudumm; sie sagen mir gar nichts. Verstehen Sie denn nicht, daß ich hier allmählich irre werde?«
»Ach, Della, Della«, sagte der Fragensteller. Er kam zu ihr herüber und legte seine Gliedmaßen erschrecken derweise auf ihre Schultern. Sie hatte damit gerechnet, daß der körperliche Kontakt sie erschauern lassen wür de, aber es war nicht so, ganz und gar nicht …
Einmal, als sie gerade im Meer geschwommen war, hatte sie ein toter Fisch, der auf der Oberfläche dahingetrieben war, am Gesicht berührt, und auch das hatte sie nicht entsetzt; dies war dieselbe Art von Kontakt. Ein kalter, stählerner, nicht ganz unwillkommener Druck gegen sie, der sie zurückführte, zurück zur Nacktheit, zurück zur Körperlichkeit; das war alles, was er bewirkte.
»Diese Art von Zurschaustellung entfernt dich von unserem Objektiv«, sagte der Wächter. »Ich dachte nicht, daß du deine Kontrolle verlieren würdest – nicht mit deiner Vorgeschichte. Nicht auf eine so erschreckende Weise.«
»Was wollen Sie von mir?« fragte sie. »Was kann ich tun, was ich noch nicht getan habe?«
Der Fragensteller schüttelte den Kopf mit einer Ges te, die so vertraut wie verblüffend war; sie erinnerte sich, wie James das gelegentlich getan hatte, wenn ihm etwas mißfiel: Manchmal, um die Wahrheit zu sagen, war es überhaupt keine Geste der Mißbilligung gewesen, sondern ein nervöser Tick. Bei langen Autofahrten begann er oberhalb des Halses zu zittern, sein Kopf schwang vor und zurück, (was, wie er sich ausdrückte, »Highway-Müdigkeit« war), was sie dermaßen nervös machte, daß sie darauf bestand, daß er den Wagen stoppte, wo immer sie sich gerade befanden. Dann hielten sie am Rande der Highway, manchmal eine halbe Stunde lang, und beobachteten durch den Rückspiegel, wie sich hinter ihnen Scheinwerfer näherten; das dumpfe, an Insekten erinnernde Summen der vorbeischleichenden Wagen. Und die ganze Zeit jenes Zittern, die verzerrte Ankündigung der Leere.
Hier war es dieselbe Sache. Sie setzte sich auf ihre Schlafstelle und sah auf ihre Hände: Das war alles zuviel; es war einfach nicht fair. Seit langem schon hatte sie die Hoffnung aufgegeben, daß dies alles ein Traum war, aber dennoch gab es immer noch Grenzen für das, was man mit ihr machen konnte. Sie fühlte, wie ihre Schultern zitterten, und dann, zum ersten Mal seit es geschehen war, bemerkte sie, daß sie weinte. Sie schwelgte, sich der Tatsache bewußt, daß sie beobachtet wurde, mutlos in diesem Wissen. Sie verdiente es. Sie verdiente es, ein Objekt zu sein. Sie war eine Leh re; sie war all denen eine Lehre, die …
Der Fragensteller beobachtete Della, bis sie von ganz alleine aufgehört, ihr Gesicht getrocknet und erkannt hatte, daß sie nicht länger weinen sollte. Es gab nichts, was des Weinens wert war. Dann zuckte er mit den Schultern – es war die spontanste menschliche Geste, die sie je gesehen hatte – und öffnete die Tür ihrer Zelle.
»Das ist nicht gut«, sagte er. »Das ist wirklich überhaupt nicht gut. Du hältst deine Entwicklung auf und leistest nichts, außer jenen netten tragischen Hang zu füttern, der zum Teil Della, aber hauptsächlich Wunsch ist.«
»Ich dachte, ihr hättet Zeit genug«, sagte sie.
»Wir haben Zeit. Wir sind Zeit. Aber … du hast sie nicht.«
»Was also? Ich werde also hier sterben. Wir werden hier dreißig Jahre lang so weitermachen, bis meine Brüste verwelken, und dann werde ich bereit sein, Ihnen zu folgen, und das wird dann das Ende von allem sein. Ich bin einundvierzig. Habe ich Ihnen das schon gesagt? Wie lange kann ich noch weitermachen, selbst wenn ich Glück habe? Fünfzig Jahre, höchstens? Das ist nichts für euch.«
»Fünfzig Jahre wären in der Tat nichts, Della. Aber für dich wäre es alles. Nein, wir müssen etwas tun, was die ganze Angelegenheit beschleunigt. Wir wollten es dir selbst überlassen, weil es besser für dich gewesen wäre, es dich wertvoller gemacht hätte. Aber wenn das nicht gelingt, werden wir zu anderen Maßnahmen greifen müssen.«
»Was?«
»Unsere Zeit ist nicht von Interesse«, sagte der Fragensteller. »Wir nehmen die Zeit nicht wahr; wir erleben sie nicht, deshalb ist sie für uns bedeutungslos. Genau wie der Begriff Orgasmus für dich bedeutungslos gewesen sein muß. Für euch ist die Zeit die einzige Realität, die reine Dimension, in der ihr lebt und die
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