Jagdfieber
nie jemand Zärtlichkeit und Güte entgegenbrachte. In dem Durcheinander ihres derzeitigen Lebens fühlte sie sich wie ein Diamantenschürfer, der täglich nach kleinen glitzernden Steinen in Form von Glück und Zufriedenheit suchte und doch nur hässliche Kieselsteine ausgrub. Der einzige Mensch, der ihr Trost und Zuversicht spenden konnte, der Einzige, dem sie ganz und gar vertraute, war ihr Dad. Plötzlich fühlte sie eine erstickende Enge in der Brust, und sie kämpfte mit den Tränen.
„Hey, Krümel, was ist denn los? Du weinst doch nicht etwa?“
Er klang leicht panisch. Ross hatte es noch nie ertragen können, sie weinen zu sehen, was sie in jüngeren Jahren schamlos ausgenutzt hatte. Erst seit sie erwachsen war, verzichtete sie darauf, ihn auf diese Weise zu manipulieren. Und dieses Mal waren ihre Tränen ohnehin echt.
„Oh Daddy, ich will dich nicht loswerden. Du bist doch alles, was ich noch habe“, flüsterte sie leise und inhalierte den Duft seines würzigen Aftershaves. Er trug seit Jahren dasselbe, die Note war ihr vertraut, eine feste Konstante in ihrem ansonsten so rastlosen Leben.
Paige fühlte, wie er ihr sanft übers Haar strich, und hörte sein Seufzen.
„Sag mal, das sind ja ganz ungewohnte Töne von dir. Du bist doch nicht etwa schwanger?“
Beinahe hätte sie gelacht, weil er sich so entsetzt anhörte. Sie schniefte, riss sich zusammen und ging zwei Schritte zurück. Mühevoll setzte sie ein Lächeln auf, das ebenso wenig echt war wie Pamela Andersons Brüste.
„Nein, bin ich nicht. Ich bin heute nur fürchterlich sentimental, das ist alles.“
Ross sah sie ernst an. „Paige, wenn du was auf dem Herzen hast, dann kannst du jederzeit mit mir reden. Das weißt du doch, oder?“
Er meinte das ernst, und sie wusste durchaus, dass Ross’ Verständnis weiter reichte als das anderer Eltern. Der Skandal um Emily hatte das hinlänglich bewiesen. Er hatte zu ihr gehalten und ihr keine allzu schlimmen Vorwürfe gemacht, als sie ihn in London angerufen und ihn über die Geschehnisse in Kenntnis gesetzt hatte, bevor es jemand anderes tat. Doch trotz Ross’ Einfühlungsvermögens war sie nicht bereit, ihr desaströses Liebesleben vor ihm auszubreiten. Auch um ihn keine zusätzlichen Sorgen aufzubürden. Er sah aus, als hätte er ohnehin schon genug eigene, um die er sich kümmern musste.
„Dad, ich schwöre dir, es gibt nichts, womit ich nicht selber fertigwerde. Es ist nur so, dass ich mich an manchen Tagen ziemlich mies fühle, wegen … du weißt schon.“
Sie schaffte es nicht mal, Emilys Namen auszusprechen, so schuldig fühlte sie sich. Trotzdem riss sie sich zusammen und lächelte ihren Vater an, während er sie so prüfend in Augenschein nahm, dass sie sich wie ein sezierbereiter Frosch unter dem Mikroskop vorkam. „Gib mir ein bisschen Zeit, dann bin ich schon bald wieder die Alte.“
In Ross’ Augen erschien ein nicht zu deutender Ausdruck.
„Ich bin schuld“, meinte er dann selbstquälerisch und nickte, als müsste er sich seine eigenen Worte bestätigen. „Hätte ich nochmal geheiratet, als du noch klein warst, wäre sicher vieles anders gelaufen. Ohne Mutter aufzuwachsen, ist nicht gut. Schon gar nicht für ein kleines Mädchen.“
„Dad, bitte ...“
Er schüttelte den Kopf und hob rigoros die Hand, um ihren Protest im Ansatz zu ersticken. „Nein, es stimmt schon. Hätte ich meine Aufgabe als Vater ordentlich erledigt und hätte ich für eine weibliche Bezugsperson gesorgt, nachdem deine Großmutter so früh gestorben ist, wärst du nicht so orientierungslos. Von der Meinung wird mich auch niemand abbringen.“
Paige wurde wütend. Nicht auf ihn, sondern weil die Erwähnung ihrer Großmutter dieses Gefühl immer in ihr wachrief.
„Dad, bitte red dir nicht so was ein. Ich habe meine Mutter nie kennengelernt, warum hätte ich sie vermissen sollen? Im Grunde war es für mich normal, ohne sie aufzuwachsen, und du hast mir genug Liebe für zwei geschenkt, nachdem Großmutter“, sie musste sich zwingen, diese Frau so zu nennen, „gestorben ist.“
Ihr letzter Satz hätte einem Unbeteiligten durchaus den Eindruck vermitteln können, als hätte Moira Carter ihr etwas bedeutet, dabei hatte sie nie eine besondere Bindung zu ihr verspürt, und als sie starb, war es ihr unmöglich gewesen, um sie zu trauern.
Moira war erst Mitte vierzig gewesen, als eine besonders aggressive Form von Krebs sich in beinahe jeden Winkel ihres Körpers gesetzt hatte. Als man die Krankheit
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