Jagdzeit
schmerzen, bestimmt habe ich auch ohne Absätze ein Dutzend Blasen an den Füßen. Die Angst hockt mir fühlbar in den Eingeweiden, und etwas tiefer, in der Blase, sammelt sich allmählich ein ganzer Ozean an, der bald hinausmuss.
Das einzig Gute daran ist, dass die Deadline mir nun den Buckel runterrutschen kann. Die gesammelten Werke von Olivia Kenning werden aus einem einzigen Band bestehen. Wahrscheinlich wird mein Debütroman die Bestsellerlisten stürmen: Das erste und einzige Werk einer tragisch beim nächtlichen Waldspaziergang verschollenen Autorin. Ich werde eine Literaturikone und bekomme postum den Bachmann-Preis verliehen. Meine Fans werden genau an dieser Stelle ein Denkmal errichten, das zur Pilgerstätte wird!
Ach ja? , knurrt Motzmarie, vielleicht einen drei Meter hohen roten Schuhabsatz?
Ich ignoriere sie, denn ich habe Wichtigeres zu tun. In einer solchen Lage bleibt der modernen Frau von heute nämlich nur eines zu tun: Restaurierung! Wenn man schon dazu verdammt ist, im Wald, unter lauter Grünzeug, ohne emergencyroomtaugliches medizinisches Personal samt entsprechender Apparaturen elend zu krepieren, dann will man wenigstens eine adrette Leiche abgeben.
In diesem Sinne krame ich Puder, Labello und Deospray aus meiner Tasche, sorge für Ordnung im Gesicht sowie unter den Achseln, packe alles säuberlich wieder ein und werfe zur Beruhigung fünf Johanniskrauttabletten ein. Verzehrempfehlung: maximal zwei Tabletten pro Tag. Nun, das müsste vorerst genügen.
Anschließend breite ich das Papiertaschentuch auf meiner Tasche aus, nehme den Kugelschreiber zur Hand und schreibe vorsichtig, um nicht durchzudrücken, in Miniaturbuchstaben:
Mein Testament: Sollte dieses Schriftstück je gefunden werden, dann befindet es sich wohl oder übel in unmittelbarer Nähe zu meiner Leiche. Gleich vorab daher mein Anliegen: Keinesfalls, ich wiederhole, KEINESFALLS möchte ich entkleidet werden, weder hier vor Ort von der Spurensicherung, noch zwecks irgendeiner Obduktion (hey, wie unnatürlich kann man allein im Wald schon umkommen?) und schon gar nicht von meinem Bestattungsunternehmer. Pfoten weg! Alles bleibt, wo es ist, besonders die stützende Funktionsunterwäsche, die einen flachen Bauch macht!
Ich fülle den Großteil des Taschentuchs mit detaillierten Anweisungen zur Aufteilung meines Vermögens und schließe mit den dramatischen Worten:
Ich verspreche hoch und heilig, in meiner letzten Stunde »Always look on the bright side of life« zu trällern, schon allein um der bösen NATUR, die mich hinterhältig gemeuchelt hat, ein letztes Mal den Stinkefinger zu zeigen. Und jetzt: Adieu!
Auf dem letzten Fitzel Taschentuch, der noch frei ist, unterschreibe ich schwungvoll. Es ist ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass man ein Mal im Leben alles gesagt hat und dass ALLES auf vierhundertvierzig Quadratzentimetern Platz hatte. Zufrieden falte ich das Testamenttaschentuch zusammen und stecke es in die rechte Tasche meiner Lederjacke. Ein feierlicher Moment, ohne Zweifel.
Jetzt heißt es warten. Ich frage mich, ob der Tod tatsächlich personifiziert mit Mantel und diversen Special Effects auftaucht, bevor man stirbt. Ob man mit ihm wohl einen Pakt schließen kann? Oder war das der Teufel? Lästig ist, dass diese Warterei so langweilig ist. Kein dramatischer Soundtrack, kein Popcorn, kein Cola light … Oooooh, apropos verschärfte Situation! Ich muss aufs Klo!
Wie ist das eigentlich, wenn man mit voller Blase stirbt? Ich gehe davon aus, dass nach dem Exitus alle Muskeln erschlaffen, folglich - bäh! - ende ich als die Leiche mit der vollgepinkelten figurstraffenden Unterhose. Kein schöner Gedanke, wirklich!
Warum sitzt du auch hier wie Miss Trübsal persönlich und sinnierst über deine sterblichen Überreste, du postume Bachmann-Preisträgerin? Komm in die Gänge, und such dir einen Busch!
Ah, auch noch da, Frau Motz, mein allgegenwärtiger Unterbewusstseinsquälgeist? Sehr nützlicher Ratschlag wieder einmal. Ein Busch? Ein Busch? Entschuldige, aber ist es das, wofür der Mensch die Zivilisation errungen hat? Sind wir dafür aus der primitiven Höhle ausgezogen, haben Städte mit funktionierenden Sanitäranlagen gebaut und Kanäle gegraben, in denen unsere Ausscheidungen hygienisch entsorgt werden?
Du hältst die Kanalisation für hygienisch?
Was weiß ich, ich habe nicht vor, mich je dorthin zu begeben. Aber darum geht es überhaupt nicht.
Worum geht es dann?
Du fragst? Sieh mich
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