Jagdzeit
sich da ein Hinweis ablesen. Auch nach oben schaue ich, lasse das aber sofort wieder bleiben, da das Baumdach ohnehin zu dicht ist und meine Himmelsrichtungskenntnisse sehr bescheiden sind.
Nun, im Prinzip ist es egal. Hat nicht Sepp, der Wirt, gesagt, alle Wege im Wald führten zur Hütte? Na also! Die professionelle, sehr intellektuelle Lösung lautet also: Ene, mene, mu und raus bist du. Gut, also links, da scheint es auch leicht bergab zu gehen, was den Ausschlag gibt.
Mit frisch geschöpftem Mut wende ich mich in die entsprechende Richtung, als es hinter mir im Gebüsch raschelt. Außerdem ist da noch ein Geräusch, das feine Kälteschauer über mein Rückgrat schickt. Ein Geräusch, das sich anhört wie … wie …
Hilfe!
5 Der Dorfgott straft!
»Das ist die Strafe.«
»Wie bitte?«
»Die Strafe, die Strafe!«
Perplex starrte ich Sepp, den Wirt, an, der sich, auf einen Arm gestützt, über den Tisch zu mir beugte und verschwörerisch lächelte.
»Was für eine Strafe?«, fragte ich leise. »Die Strafe des Dorfgottes, junge Frau. Der Dorfgott da oben grollt und verschüttet sein Bier. So heißt es in der Chronik. Ihn hat es nämlich immer schon gegeben, lange vor den Bergen.«
(Verschüttet sein Bier?)
»Den, äh, Dorfgott?«
Sepp nickte und starrte vor sich hin, als führte er eine innerliche Konversation mit welchem Gott auch immer. Seine Wangen waren gerötet, von feinen Adern durchzogen, und der Blick der dunklen Augen war irgendwie - entfernt. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob er betrunken oder prinzipiell von einem anderen Stern war. Letzteres war wahrscheinlich, denn nach Alkohol roch er nicht.
So unauffällig es ging, schielte ich auf mein Handy. Halb neun vorbei.
Damit war es wohl amtlich: Ich war versetzt worden, versetzt im düstersten Wirtshaus des ödesten Kaffs am Ende der zivilisierten
Welt, von einem Mann, der mich überhaupt nicht kannte. Ich hatte mich innerlich damit abgefunden, wegen gewisser Äußerlichkeiten vom männlichen Geschlecht, nun ja, weniger als andere Frauen beachtet zu werden. Ich brachte sogar ein gewisses Verständnis dafür auf, dass das erste Auswahlkriterium heutzutage nun mal die Optik war, und wie ein Supermodel sah ich nicht gerade aus. Oder, wie Heidi Klum es lapidar ausdrücken würde: »Ich habe leider kein Foto für dich, weder heute noch in tausend Jahren.«
Aber: Versetzt zu werden, ohne überhaupt in Augenschein genommen worden zu sein, sträflich unter Wilden im Stich gelassen, ohne meine Katze, ohne meine Fernbedienung, ohne meine Sex-and-the-City-DVDs und vor allem ohne meine Trostschokolade, das war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Der Dorfgott möge ihm von oben auf den Kopf spucken!
Wütend drehte ich mich um und bereute es sofort. Da saß er, der Schnüffler, ohne Hut diesmal, und beobachtete mich schamlos, schon seit ich das Lokal betreten hatte. Vor ihm stand - ja, wirklich! - eine Halbliterpackung Vollmilch. Und ein unberührtes Glas. Permanent kritzelte er in seinem Notizblock herum, wahrscheinlich fertigte er noch mehr lächerliche Porträts an. Womöglich war er wirklich ein Perverser, der heimlich Aktskizzen machte, zuzutrauen war es ihm.
Ich dachte mir gerade ein paar besonders qualvolle Todesarten für neugierige Schnüffler aus, als ich Sepps harte, trockene Hand auf meinem Unterarm spürte.
»Es geht ein Wolf um im Wald.«
Sepp sagte diesen Satz lauter als notwendig, mit dem Erfolg, dass es augenblicklich still im Wirtshaus wurde und sich die Köpfe aller Gäste uns zuwandten.
»Immer wenn der Dorfgott so grollt, ist ein Wolf dafür verantwortlich. Wölfe …« - jetzt sprach er laut genug, dass jeder im Saal ihn verstehen konnte - »sind schuld an allem. Und so lange der Wolf nicht geschossen ist, so lange werden wir bestraft. Das ist die Wahrheit.«
(Im Kopf notiere ich: Wahrheit mit drei Ausrufezeichen.)
»Unsinn«, sagte ich, »Wölfe sind doch in Mitteleuropa so gut wie ausgerottet, zumindest in freier Wildbahn. Wie die Bären. Wenn dann mal einer auftaucht, dann geht das doch sofort durch alle Medien.«
Es war totenstill im Saal, das einzige Geräusch war das Quietschen der Gläser, die Therese, Sepps Frau, hinter der Theke polierte. Ich fühlte jedes einzelne Augenpaar auf mich gerichtet und spürte, wie mein Gesicht glühend heiß wurde. Oh, ich hasste diese angeborene Schwäche. Wenn mir etwas peinlich war, das hatten meine Schulkameraden schon früh begeistert und unter viel Gelächter festgestellt,
Weitere Kostenlose Bücher