Jagdzeit
sein Fernglas nicht ohne Unterlass auf das Wasser zwischen Insel und Festland gerichtet war, und warum sollte das so sein, war das Risiko, gesehen zu werden, relativ gering. Auf jeden Fall gering genug, um den Versuch zu wagen.
Aber Zeit war das Allerwichtigste. Tief gebückt fing Art an, sich, so schnell es ging, Richtung Westufer zu bewegen. Der Wald war ziemlich ausgedünnt. Indem er von Zeit zu Zeit stehen blieb, um seine Flanken und den Pfad vor ihm zu überprüfen, konnte er das Risiko eines Hinterhalts möglichst gering halten.
Um exakt zehn Uhr fünfunddreißig erreichte er den See, mehrere hundert Yards einer schleimigen grauen Fläche, die sich vor ihm ausdehnten, vereinzelt unterbrochen von grasbewachsenen Hügeln oder abgestorbenen Bäumen, mit einer Temperatur nahe dem Gefrierpunkt. Na ja, nicht ganz, aber auf jeden Fall weniger als fünf Grad.
Art schraubte den Deckel von seiner Feldflasche und goss sich trotzig noch mal kräftig Bourbon in seine Kehle. So viel zu dir, Ken, dachte er, und deiner verdammten Bevormundung beim Saufen, unausgesprochen, aber deutlich zur Schau getragen. Art verspürte eine tiefe Genugtuung. Vielleicht kannte Ken ja ein besseres Mittel, sich warm zu halten? Er schraubte die Feldflasche wieder zu und sagte sich: Jetzt oder nie. Egal, wie kalt es werden würde, er konnte sich ja wieder warmlaufen, wenn er die andere Seite erreicht hatte. Vom Festlandufer den Ochsenpfad entlang zu den alten Eisenbahngleisen waren es nur dreieinhalb Meilen. Er musste bloß die Zähne zusammenbeißen, bis er die durchgerosteten Schienen erreichte, sich dann noch mal für weitere dreizehn Meilen zusammenreißen, dann hätte er den Highway erreicht. Letztes Jahr hatte er in der Gegend gejagt, das Gebüsch auf dem Ochsenpfad war licht und man kam leicht durch. Die Bahnlinie war auf einem Damm aus Schlacke errichtet worden und trotz der Jahre hatte der Wald noch nicht die ganze Strecke überwuchert. Wenn er erst mal aus dem Seegebiet raus war, würde er sich nicht mehr mit der Sorte Gebüsch herumplagen müssen, das einen extrem Zeit kostete.
Art zog sich bis auf die Stiefel aus, machte aus seinen Klamotten ein Bündel und band es an sein Gewehr. Er stieg ins Wasser.
Die plötzliche Kälte traf seine Beine schmerzhaft. Oh Gott, nicht so, nicht diese Kälte. Er wartete. Er konnte sich nicht daran gewöhnen. Er watete bis zur Taille ins Wasser, die Füße rutschten ihm weg, er versuchte, nicht zu plantschen. Er blieb stehen und blickte zurück auf den Wald hinter ihm. Nichts regte sich. Nur ein vereinzelter Eichelhäher oder eine Rotdros sel schoss laut rufend durch die kahlen Äste. Das war alles.
Um Himmels willen, bloß nicht die Nerven verlieren. Geh. Jetzt. Es wird nicht wärmer, also bring’s hinter dich. Er sank bis zur Brust ein, drehte sich um, spannte alle Muskeln gegen den Schock und fing an, das Gewehr über Wasser, mit rhythmischen Stößen zu schwimmen.
Das Ufer entfernte sich langsam. Nach einer Weile spürte er das raue Gras eines Erdhügels an seinen Fingern. Er ließ seine Beine sinken, kauerte sich hinter das, was der Hügel ihm an Schutz bot, und schob grünen Schleim beiseite; seine Füße schlüpften über etwas, das ein versunkener Baumstamm sein mochte. Er wartete. Sein ganzer Körper wurde vor Kälte geschüttelt. Kein Zittern, sondern über und über unkontrollierbarer Schüttelfrost. Er zog sich hinauf auf das Gras. Zuerst fühlte sich die Luft warm an; dann plötzlich erschien sie ihm sogar noch kälter als das Wasser. Er band seine Feldflasche los. Heilige Scheiße, wofür zum Teufel bewahrte er den Stoff auf? Er trank den ganzen Rest Bourbon aus, wütend und ohne Luft zu holen. Es war mindestens ein halbes Glas. Der Schock von so viel Alkohol auf einmal brannte und würgte ihn. Er schob schaumigen Seeschleim beiseite, schöpfte ein wenig Wasser in seinen Mund und wiederholte, was er beim Aufbruch zu sich gesagt hatte: Los doch, jetzt oder nie. Er glitt zurück ins eisige Wasser und dachte an Martin, dachte: Wenn der kleine dreckige Wichser das ausgehalten hat, dann kann ich es auch. So ein elender kleiner Scheißhaufen. Den ganzen Weg hinüber und dann noch Ken zusammengeschlagen, als er ankam.
Er schwamm weiter, berührte einen zweiten Erdhügel, beschloss weiterzumachen. Die Insel fing an, weiter entfernt auszusehen. Das bedeutete, dass er wahrscheinlich schon die halbe Strecke hinter sich hatte, eventuell sogar mehr. Er hatte seinen Atem mit seinen
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