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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Jerichow anlegen wollte, mußte er in Jerichow sein. Mußte er bleiben.
    – Das soll ich ändern?
    – Du sollst es anders erzählen.
    – Wir werden es ein wenig anders hinstellen.
    – Denk auch an das Kind, das in Papenbrocks Haus ausgestellt wird.
    – Nun mußte Cresspahl dem Pastor noch austreiben, daß sie etwa in allen Punkten einig wären, ausgenommen dem einen, in dem die Kirche ja nur mithelfen sollte. Als Brüshaver den Taufspruch wiederholte, nur zur Sicherheit, mißverstand Cresspahl das für eine Anfrage und zögerte die Antwort heraus und sagte schließlich: Nè. Es kam amüsiert heraus, jedoch auch als Zurechtweisung für eine alberne Zumutung, und bedeutete einmal, daß Lisbeth Papenbrock für sich allein in der Bibel Sprüche suchte, und bedeutete zum anderen, daß Cresspahl von der Kirche nicht … daß er die Kirche nicht … daß die Kirche ihm …
    – Und drittens: sagt Marie: daß ihm nicht gerade dringend um Freunde zu tun war. Daß er Freundschaften in Jerichow nicht benötigte. Warum reist er nicht ab!
    – Er nimmt das Kind unter den Arm und reist nach Hamburg und läßt es abbeißen von seinem Steak und trinken von seinem Bier.
    – Ach so: sagt Marie. - Ein Mann mit einem Kind. Es geht nicht.
    – Er hatte keine Wahl mehr. Das Kind und dazu die Frau konnte er nur noch in Jerichow behalten, nicht mehr in Richmond, nicht in Lisbeths fremdem Land.
    – Was machte ihn so sicher?
    – Sie hatte es ihm gesagt.
    – Ging es nicht nach dem Willen der Männer in jenem Land Mecklenburg?
    – Es war üblich, Marie.
    – Warum sagt er ihr nicht: Nimm das Kind, nimm dich zusammen, geh hinter mir her?
    – Du bist doch sonst nicht für Gewalt, Marie.
    – Es ging ihm nicht darum, Gewalt zu vermeiden. Er hatte Angst.
    – Er hatte Angst, sie zu verlieren.
    – Er war feige! Er wollte nicht wissen, wozu sie notfalls imstande war!
    – Mehr ändern kann ich es nicht.
     
    Die Kassierer der Ubahn nehmen keine Fünfdollarscheine mehr an, aus Angst vor Fälschungen. Einiges Geld in unserer Tasche ist wahrscheinlich falsch.

16. November, 1967 Donnerstag
    Auch Mr. Josiah Thompson glaubte nicht dem amtlichen Bericht über den Tod des Präsidenten Kennedy. Als er auf drei Attentäter kam statt auf den offiziell anerkannten Mörder, besuchten ihn Agenten des F. B. I. Sie warnten ihn, jede seiner Äußerungen könne gegen ihn verwendet werden. Also sagte er nichts. Darauf gingen sie weg. Jetzt weiß er nicht, was sie ihn fragen wollten.
    Die Nordvietnamesen haben in Süd-Viet Nam einen Flugplatz und ein Munitionslager beschossen, so daß ein ganzes Tal in Flammen steht. Der Amerikanische Oberbefehlshaber in Viet Nam findet die Lage »sehr, sehr ermutigend«.
    Die New York Times muß sich berichtigen. Der Außenminister hat nicht gesagt, es gebe keine Alternative zur Eskalation des Krieges. Er hat gesagt: Immer wenn wir deeskalieren wollen, lassen die anderen uns nicht.
    Die Adresse, die Mrs. Ferwalter uns empfohlen hat, ist auf der Ostseite in einer der neunziger Straßen zum East River hin. Im Eingang der Straße sind hinter Scherengittern die Hoffnungen aufgebahrt, die einmal der Einzelhandel in ihre Bewohner setzen wollte: halb abgebrochene Ladentische, Glasbruch, Verpackungsmüll. Auf dem Damm stehen kaum Kinder herum. So hockten die aufgegebenen Autos schon vor vier Wochen, etwas rostiger jetzt, etwas gründlicher ausgeschlachtet. Die Straße ist so wenig noch lebendig, hierher kommen Leute aus anderen Vierteln und werfen ihren sperrigen Abfall, von der Couch bis zum Kühlschrank, neben die hiesigen Tonnen, die nicht einmal zum Stinken genug im Bauch haben. Das Haus kauert erbärmlich in einer Reihe von vierstöckigen Verwandten, ein halbtotes. Die Vortreppe sieht nicht begangen aus. Die Tür steht offen, nach hinten gestemmt in einem Winkel, der nicht mehr Angst um Eigentum verrät, nur noch Gleichgültigkeit. Die meisten Fenster halten das Tageslicht mit verstaubten Rouleaus fern. Womöglich vor zehn Jahren hat der Besitzer versucht, die Ziegel der Fassade mit einem wässerigen Blau zuzustreichen, da sie schon nicht mit Sandstein bekleidet war, seit dem hat das Haus keine Hilfe mehr bekommen. Im Treppenhaus hängt noch nicht der Schmutz, wie Absicht ihn zusammenträgt, bloß Staub und klebrige Feuchte, die Mischung des Verrottens. Hinter den Türen ist es still wie bei Kranken, und sie zeigen schale Gesichter, als würde hier nicht mehr viel gekocht. Im dritten (im vierten) Stock hat Herr Kreslil

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