Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
fünf blaue Bände eines Verfassers Anatol Kreslil mit immer dem selben nicht entzifferbaren Titel, und Kreslil setzt sich zurecht in einer eckigen ordentlichen Art, wie sie hinter den Schultischen früher zu erwerben war, räuspert sich sorgfältig, beginnt die Aufgabe der letzten Stunde zu wiederholen, lächelt aufmunternd hinter seinen ungefaßten Bifokalgläsern und freut sich auf mein Wissen, und tatsächlich können wir ihm zu Gehör bringen, daß unsere Häuser fern vom Bahnhof stehen, naše domy jsou daleko od nádraží, aber es fehlt uns etwas dazu, daß diese tschechischen Worte nicht schwierig sind, tato česká slova …, und einmal wollte die Schülerin Cresspahl nichts mehr lernen von der Sprache der Besatzungsmacht und blieb ein Schuljahr lang stehen bei der Geschichte von dem Großväterchen und der widerspenstigen Rübe, und er zog, und er zog, tjeshil, tjeshil, a nje vytjeshil, in Prag hielt mich ein Fremder auf, ein Mann in Postuniform mitten im Hauptbahnhof, Wilsonovo nádraží, drei Schritte von der Auskunftsbude entfernt, und ließ sich dorthin schicken mit »ptejte se tam«, als ob er die gebräuchliche Form »zeptejte se tam« nicht kennte, zeigen Sie mal Ihren Paß, mit diesem amerikanischen Paß wollte ich lieber noch ins Amt für Sicherheit als in die Amerikanische Gesandtschaft, und doch kam niemand ins Abteil auf der Fahrt nach Berlin Ostbahnhof die ganze lange Nacht, die Geheimpolizei ist nicht so kleinlich mit der Funktion der verbalen Aspekte in den slawischen Sprachen, und immer wieder bringt Kreslil mich mit seinem Tschechisch in mein Russisch und nimmt sich zurück in einen sparsamen, strengen Ausdruck und sieht mir mit dieser Mißbilligung beim Schlafen zu, das ist noch ein Nachholkursus in der Geschichte des Sozialismus, ich habe mich schlafen sehen auf einem von Blachs Bildern mit leicht vorgekrümmten Schultern und lockerem Hals und hängendem Gesicht wie tot, für ein einziges Wort Deutsch holt Kreslil mich aus meinem Schlaf für zehn Dollar und führt mich an der entsetzten Frau Kvatshkova vorbei zur Tür, ich habe nicht russisch nicht deutsch gesprochen, ich sage doch nichts, wie kann ich hier einschlafen. Wie kann ich schlafen bei diesen Leuten. Weck mich auf.
17. November, 1967 Freitag
Er ist es nicht. Der alte Mann, der sich auf den Straßen Panamas umherdrückte als Verkäufer von Kämmen, Wein und getragenen Kleidern, ist nicht Heinrich Müller. Wenn der Chef von Hitlers Geheimer Staatspolizei noch lebt, lebt er auf freiem Fuß.
Auf der dritten Seite, wo die New York Times für gewöhnlich die Fotonachrichten aus Viet Nam abbildet, zeigt sie heute den fast dreiundzwanzig Meter langen Käfig zu Catanzaro, in dem die italienische Justiz 121 Angehörige der Mafia für einen Prozeß hält. Wenn Karsch jetzt sich in diesem Lande aufhalten kann, wird er seine Leute in Calabrien haben.
Avenarius Kollmorgen war eingerichtet auf einen genußreichen Abend. Er saß oft genug allein in der Nacht. Er hatte gelesen von der Entsagung des Alters; ihm ging es so nicht mit den Menschen und nicht mit den Genüssen. Nicht daß er der Leute bedurfte, lediglich ihrer Gesellschaft. Im Inneren wünschte er allein gelassen zu werden. Er hatte sich von seinen Eltern getrennt, indem er nicht die gewünschten Künste studierte, sondern die Rechte. Er war hinweg über einen Vornamen, den andere als Familiennamen zu schriftstellerischer und philosophischer Berühmtheit geführt hatten; obendrein wünschte er sich nicht einmal, Richard Wagner zum Großvater zu haben. Auch hatte er es geschafft, sich von innen zu sehen nicht als jenen »Avi« in der wismarer Stadtschule, nicht als jenen »Arius« in Erlangen, wahrhaftig als den echten und geheimen Avenarius Kollmorgen, der sich Keinem mehr auf die Nase band. Diesen Avenarius kannte er als ein sanftes, verletzliches Wesen. Nun gut, er war in keiner Kunst aufgefallen. Sehr wohl, er war aus Rostock weggegangen in eine sehr viel kleinere Stadt an der See, wo er nicht leicht zu finden war. Allerdings, er lebte allein. Welcher Frau denn hätte er sich ausdeuten können? Die Kinder, die ihm Sprüche nachschrien, die Jerichower, die seinen Gang und seine Redensarten erheiternd fanden, mochten sie ihn für verschlagen halten, für hochmütig, für schrullig überhaupt. Das war eine so schlechte Tarnung nicht. Und er trat in den Lübecker Hof nicht deshalb selten, weil die Stufen etwas zu steil waren für seine etwas kurzen Beine; ihm gefiel nur nicht,
Weitere Kostenlose Bücher