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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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nicht: sagt Marie mürrisch, aufgebracht. Heute ist es so kalt und windig, sie ist ihr Schiff nur innen abgegangen. Sitzt widerwillig da, sieht gelangweilt auf die undeutlichen Wolken über dem Hafen. Es paßt ihr nicht.
    – Weil er sein Land verriet?
    – Auch.
    – Aber war nicht sein Land im Unrecht?
    – Gesine, ist dies Land nicht im Unrecht? Kannst du nicht lange davon reden, und das ist nur die Aufzählung? Gehst du deswegen hin und verrätst es?
    – Wir sind hier zu Gast.
    – Wir leben hier.
    – O. K., Marie. Sollte ich damit anfangen, werde ich dich vorher fragen.
    – Ich helf dabei bestimmt nicht.
    – Und was ist dein anderer Grund dagegen?
    – Alle in deiner Familie haben den Nazis in die Hand gearbeitet, und Cresspahl erst recht. Nun willst du wenigstens einem die Ehre retten, und deinem Vater am liebsten.
    – Ich habe einen Beweis.
    – Das ist ein ganz gewöhnlicher half penny mit Georg VI . hinten drauf.
    – Sieh auf das Prägejahr.
    – 1940. Den kannst du neulich aus England mitgebracht haben.
    – Den hat man mir aus Jerichow geschickt, als mein Vater gestorben war. Das war 1962, und er ist seit Kriegsanfang nie mehr in England gewesen.
    – Erzähl es mir! Erzähl es mir! Warum hast du mir das nicht früher erzählt!
    – Hättest du es verstanden?
    – Nein. Ich versteh es ja auch jetzt nicht. Erzähl es mir.
    – Die Lebensversicherung bei der Allianz -
    – Du, Gesine. Ich dachte, es ist ausgedacht. Ich bin ja einverstanden mit deinem Ausdenken, ich geb dir meine Unterschrift darauf; dies wär mir als Wahrheit lieber. Ist es wahr?
    – Es hat mit Geld angefangen.
    – Du weißt gut, worauf ich hineinfalle. Du bist so im Vorteil; du kennst mich, Gesine.
    – Cresspahl hatte nur sein eigenes Leben versichert, dem Kind und Lisbeth zuliebe; nun brachte Lisbeths Tod kein Geld. Er hatte den Verlust des Werkstatthauses mit Maschinen gar nicht erst nach Hamburg gemeldet; der Brandkasse fiel dann auf, daß die Dezemberrate ausblieb. Im Januar kam eine Mahnung, konnte aber nicht eine Überweisung zurückholen. Jerichow, von Hamburg aus gesehen lag das auf dem platten Lande, war womöglich Land, jedenfalls nicht eine Gegend, von der im Schriftverkehr viel zu erhoffen war. Mitte Februar konnte dann jemand geschickt werden, in einem Auto mit dem Zeichen HH , das mitten in der Stadt parkte, als sei der Fahrer nur zu einem Mittagessen im Lübecker Hof abgestiegen. Cresspahl sagte später: ein Tennismann, so daß ich mir ihn vorstelle wie Dr. Ramdohr, lang, schlaksig, mit einem kleinen Kopf, etwas verschlafener Miene, aber hellwach und nicht leicht zu überrumpeln; von Kleinkriegen keine Rede. Vielleicht, weil Ramdohr damals so oft in Hamburg zu tun hatte. Dieser andere fiel in der Stadt nicht einmal mit einer Aktentasche auf, ging nicht bis zur Gneezer Straße, sondern über den Kirchhof wie ein Anblickssammler, trat aus der Kapellenpforte auf den Ziegeleiweg und war auf Cresspahls Grundstück, ohne daß viele ihn gesehen hätten. Nun weiß ich etwas nicht.
    – Stell es dir vor, Gesine!
    – Ich stelle mir vor, daß die einander vom November aus Dänemark kannten (oder vom Dezember aus England); dann hätte das Gespräch mit einer Erinnerung angefangen. Ich stelle mir auch vor, daß dies die erste Aufforderung war. Dann hätte der Fremde den Vorschlag leichthin gemacht, wie etwas, das versteht sich; als sollte es den Kopf nicht kosten. Und Cresspahl hätte nicht weniger gleichmütig gesagt, er wolle sich das überlegen. Oder: noch einmal überlegen. Dann hätte der andere ihm den Polizeibericht über den Brand hingehalten und gesagt: In einem Holzhaus, in dem Holz lagert, fällt leicht eine Laterne um.
    – Das Geld stand Cresspahl doch zu!
    – Nicht wenn es Selbstmord war.
    – Wieso Selbstmord! O. K. Ich weiß. Entschuldige.
    – Cresspahl wollte sie ausprobieren. Er fuhr nach Lübeck und hörte sich vorsichtig um bei Erwin Plaths Freunden, die waren aber beschäftigt mit dem Sieg Francos über die legale Regierung Spaniens, und wenn sie von England sprachen, schimpften sie auf die britische Regierung, die bei der Aushungerung der Volksfront mitgemacht hatte. Und damals fingen die Sozialdemokraten an, sich einzugraben. Dann kam der Besucher wieder, und diesmal fiel es Cresspahl leicht, ihm zu glauben. Denn was der andere mitgebracht hatte, war ein Blatt mit dem Gesetz über die Devisenbewirtschaftung vom Februar 1935. Darin waren bis zu zehn Jahre Zuchthaus angedroht für jeden, der seine

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