Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sorgfältig das randvolle Maßglas überm Eis umkippend: Siehst auch so aus. Das befriedigt den traurigen Fetten. Wenigstens Einer, der ihn versteht. Er wiederholt: Ich bin fertig für den doowen Bauernhof, den in nutville, wo die Mühle ist, da mahlen sie die Klapse. Nun sieht er wirklich aus wie ein übermäßig gekränktes Kind kurz vor dem Weinen. Eben noch hat Wes sich vorgebeugt mit der Miene des Anteilnehmenden, schon fordert er ihn roh und rationell auf: Du wirst mir doch die Adresse dalassen, oder; wenn ich dich mal besuchen will. Denn Wes hat zu tun, muß gerade mit der Spitze eines gedrungenen Messers eine winzige Zwiebel aus einem schmalen Glashals picken (- Nimm doch die Finger: sagt der, dem alles egal ist), er hat jetzt unverhofft ein Stück Eis zu nehmen und es über sechs Meter Ziel genau in die Kasse des westlichen Reviers zu werfen, damit George sich wundert und die Gäste ihre Unterhaltung haben, er hat zu tun. Es hat jemand seine Sodaflasche umgestoßen, versehentlich. Wes nimmt die halbvolle Flasche, hält sie hoch über die Theke und läßt sie ordentlich darauf auslaufen. Ist das so, wie Sie es wünschten? Jetzt ist dem Traurigen schon besser. - Weißt du, ich werde doch eine Rückfahrkarte nehmen: sagt er.
Leise, genüßliche Gespräche. Kein Wort über den Krieg. Vor den Fenstern die warme geschäftige Straßennacht. Als wäre Frieden.
Hier lebe ich manchmal zum Vergnügen, Gesine. Versuch’s doch mal.
Tu ich ja. Tu ich ja.
24. März, 1968 Sonntag
Zweimal haben die ostdeutschen Kommunisten eine Einladung aus Prag zurückgewiesen, als hülfe das gegen ihre Sorge, die Demokratisierung in der Č. S. S. R. arbeite in die Hände des westdeutschen Kapitalismus. Alexander Dubček benahm sich nicht wie ein vertrotztes Kind, stieg in einen Zug nach Dresden und versuchte es den Genossen zu erklären. Die sind inzwischen so weit, daß sie Zeitungen aus dem sozialistischen Bruderland beschlagnahmen.
Im Herbst 1942
hatten es die von Bobziens bei Jerichow nicht mehr schwer, Spaziergänger aus dem Gräfinnenwald fernzuhalten. Da hatten zwei Männer sich an Bäume gehängt, und trugen Geld in den Taschen.
nannte Reichspropagandaminister Goebbels das Kriegswinterhilfswerk ein »einzigartiges Hauptbuch des deutschen Sozialismus«, aber die Lübecker Zeitung war voll von unmäßig vielen Kaufgesuchen und Tauschangeboten. Tabak-Böhnhase wurde aus Jerichow abgeholt, weil er Rauchwaren gegen Naturalien verkauft hatte. Sieben Jahre Gefängnis.
waren fast alle Villen hinter dem Deich von Rande enteignet, beschlagnahmt, ein Drittel neu gebaut. »Wohnbedürfnis der Luftwaffe kriegswichtig«. Die Herren versuchten nun in ihren Kaminen das Treibholz zu verbrennen, das sie im Sommer am Strand so eifrig gesammelt hatten. Das Holz stank, wollte nicht brennen, ging qualmend aus. Die Herren, denen an ländlicher Zünftigkeit gelegen war, hatten versäumt, das Salz aus dem Holz abregnen zu lassen.
Der Reichsstatthalter über Mecklenburg warnte in öffentlicher Bekanntmachung vor Gerüchtemacherei um Vorgänge bei dem Bombardement »einer« mecklenburgischen Stadt. Jetzt ging das Karussell der Erzählungen von Plünderei und Leichenfledderei schneller rund.
In einer der Villen am rander Deich lebte nun Leslie Danzmann, als »Hausdame«. Sie war fast unbehelligt, denn der Besitzer hatte in Berlin im Luftwaffenforschungsamt auf einige Telefone zu achten und kam nur zu wenigen Wochenenden an die mecklenburgische Ostsee gereist. Bei solchen Gelegenheiten war Cresspahl Gast in der Villa, nicht bei Leslie Danzmann. Er brachte das Kind mit, und sie nähte dem Kind das Kleid heil, während Cresspahl mit ihrem Fritz im Herrenzimmer saß und soff. Sie sah nur die Flaschen, die am späten Abend von solchen Zusammenkünften übrig waren.
Der Fortsetzungsroman in der Lübecker Zeitung hieß G. P. U.,
Grauen
Panik
Untergang
und der Doppeladler im Titelkopf der Zeitung saß nunmehr noch stilisierter links von klobig veränderter Schrift und trug an Stelle des Wappenschildes ein von dessen Rand umrissenes Kreuz mit Haken.
Leslie Danzmanns Fritz mochte in Berlin nicht anzugreifen sein, in Mecklenburg konnte er ihr nicht helfen. Sie wurde ins Arbeitsamt Gneez dienstverpflichtet, nicht in die Munitionsfabrik, weil sie auf eine höhere Schule gegangen war. Sie war fast eine Stunde unterwegs von der Ostsee bis Gneez, zusammen mit den Rüstungsarbeiterinnen vom Lande. Die mußten abends noch die Kinder, das Haus und den
Weitere Kostenlose Bücher